Dieses irdische Paradies kann hautnah erleben, wer am Sonnabend nach Biesenbrow kommt, um Welks weise-kauzigen Kantor und seine Schützlinge, die Heiden von Kummerow, zu treffen. Eben dort, wo der Autor vor mehr als 100 Jahren seinen gleichnamigen Roman ansiedelt – im literarischen Kummerow, dem uckermärkischen Biesenbrow bei Angermünde – lässt das theater 89 die Romanfiguren lebendig werden und nimmt die Zuschauer mit in die Heimat und die Geschichten seiner Kindheit.
Kein Wort wird weggelassen
Das kleine Theater unter der Leitung von Uta Wilde und der Regie von Hans-Joachim Frank inszeniert Welks "Die Heiden von Kummerow" als Dreijahresprojekt und wagt damit ein künstlerisches Experiment. Jedes Jahr werden acht der 24 Kapitel an einem Tag erzählt, zehn Stunden lang. Nicht auf einer Bühne, sondern in der Landschaft rund um Biesenbrow, an den Originalschauplätzen der Romanhandlung, die im Dorf bis heute fast unverändert erhalten sind:  die Kirche, der Pfarrgarten, das Dorfschulhaus, die Landarbeiterkaten, das Bruch. Das Publikum wird von Schauplatz zu Schauplatz geführt, begleitet von den Darstellern, einer Musikkapelle und Kremsern. In diesem Jahr folgt nun der dritte und letzte Teil des Theaterspektakels.
Welk schrieb den Roman 1937, als er nach einem Brandartikel gegen Propagandaminister Joseph Goebbels von den Nazis eigentlich Berufsverbot erhielt. Die "Heiden von Kummerow" waren seine "unpolitische" literarische Nische, in der er aus dem Leben seiner Kindheit in seinem Heimatdorf erzählt, von den Armen und Reichen, den Gotteshörigen und  gotteslästernden Skeptikern, den Heiden, die infrage stellen, was Kirche predigt und was Nächstenliebe bedeutet. Und er macht die Dorfkinder zu Helden, die in der Welt der Erwachsenen die Wahrheit des Lebens suchen.
Regisseur Frank  spürt mit seiner Open-Air-Inszenierung diesem Geist des Romans nach,  der nicht nur eine Liebeserklärung an die Uckermark ist, sondern zugleich ein Werk mit philosophischem Sinn, was Leben ausmacht, was unkritischer Gehorsam und Egoismus bewirken.
Aus Ehrfurcht vor der Sprache des Dichters und seiner Botschaft hat Regisseur Frank den Roman als szenische Lesung inszeniert und kein Wort weggelassen oder verfälscht. Die Handlungen werden von den Darstellern gespielt, Dialoge gesprochen. Es sind neben einigen Profischauspielern alles Kinder und Erwachsene aus Biesenbrow, die mittlerweile mit ihren Rollen verwachsen sind. "Diese Mischung aus Lesung und Schauspiel in der Landschaft verleiht den Worten des Romans eine tiefe Eindringlichkeit und emotionale Wirkung", sagt Frank. Der Zuschauer erlebe die Poesie des Romans mit allen Sinnen, und er habe viel Zeit, in die Geschichte und in die Landschaft des Geschehens einzutauchen.  "Worte brauchen Zeit", betont der Regisseur und widersetzt sich mit seiner außergewöhnlichen Inszenierung ganz bewusst dem schnellen, oberflächlichen Konsum von Kunst und Schauspiel, der Gier nach Action und pompösen Bildern.
Der dritte Teil beginnt nicht in Biesenbrow, sondern in Angermünde, dem literarischen Randemünde, das für die Dorfkinder um Martin Grambauer, Pastorentochter Ulrike, Johannes aus dem Armenhaus und den anderen Freunden wie eine Weltstadt erscheint. Dorthin sind die Kinder heimlich barfuß oder in Holzpantinen marschiert, um als "Goten" neue Weidegründe zu erobern. Und dort, in der mächtigen Marienkirche, beginnt am Sonnabend um 10 Uhr das finale Spektakel mit dem Kapitel "Die Völkerwanderung". Der Sakralbau bietet eine imposante Kulisse, um das Staunen, die Ehrfurcht und die Sehnsucht der Kinder nach der großen unbekannten und verlockenden Welt außerhalb ihres kleinen Dorfes nachempfinden zu können, das sie bisher noch nie verlassen hatten.
Danach machen sich die Theaterleute gemeinsam mit dem Publikum auf den Weg nach Biesenbrow, um dort die weiteren Kapitel des Romans zu erleben, darunter "Die Martinsgans" und die düstere Austreibung, mit der sich die Kinder listig am jähzornigen, raffgierigen Müller Düker rächen wollen. Und schließlich das tragische Ende, als der von den Kindern geliebte Tagelöhner und Kuhhirte Krischan aus dem Dorf getrieben wird und alle Erwachsenen wissen, dass das Unrecht ist.
Es ist leicht erzählte schwere Kost, die Welk unter dem Eindruck der NS-Herrschaft in seinem Roman vermittelt. Es geht um Gerechtigkeit, Feigheit, um Vorurteile, Neid, Geiz, unkritische Anpassung und Unterwürfigkeit. Die Kinder halten den Erwachsenen den Spiegel vors Gesicht und ernten dafür Schimpfe und Prügel.  "Welk weicht den Härten des Lebens nicht aus und lässt am Ende niemanden ungeschoren davonkommen. Er entlässt den Leser ohne Happy End, dafür mit vielen Fragen, die noch immer verblüffend aktuell sind", resümiert Frank – und lässt die Heiden ziehen.
Infos: Die Vorstellung beginnt am 14.9. um 10 Uhr in der Marienkirche Angermünde und wird ab 13 Uhr in Biesenbrow fortgesetzt; Karten unter [email protected] und an der Tageskasse

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