Vor ihrem Küchenfenster blühen und duften Holunderbüsche im Garten. Der endet erst am Chossewitzer See. Ein Sorgenkind der Bewohner, schon seit Jahren. Zu viele Nährstoffe lassen ihn immer wieder kippen, das Anfüttern der Fische durch Angler halten viele für eine Ursache. So hört es Giorgi immer wieder aus dem Dorf, um dessen Belange sie sich nun kümmert. Sie verwaltet die Schlüssel zu Feuerwehrgerätehaus, Gemeindehaus und zur Trauerhalle. Die Anliegen der Bürger gibt sie an die Stadt Friedland weiter. Sie möchte statt klassischer Dorffeste gern Kino-Abende veranstalten. Doch diese Idee hat die Corona-Pandemie erst einmal durchkreuzt.
Verliebt in Scheune und See
Giuliana Giorgi kaufte vor drei Jahren das Haus schräg gegenüber der Kirche. Zuvor hatte sie 35 Jahre in Wiesbaden gelebt. Nach dem Tod ihrer Eltern erlaubte ihr deren Erbe, sich einen großen Wunsch zu erfüllen: in die Großstadt Berlin zu ziehen, denn sie verstand sich als Städterin. Doch mit der Zeit vermisste sie die Natur und legte sich einen Garten in Petershagen zu. Weil sie dort aber nicht wohnen durfte, ging die Suche bald weiter. Zufällig fand sie im Internet das Grundstück in Chossewitz. Als sie die alte Scheune, den großen Garten und vor allem den Seezugang sah, war sie gleich verliebt. Nach gut zwei Jahren Pendeln entschied sie sich im Juli letzten Jahres, komplett umzuziehen. "Ich liebe das Alleinsein hier", sagt sie. Selbst der – im Vergleich zu Italien – lange dunkle Winter gefällt ihr. "Dann habe ich keine Verpflichtungen und bin zuhause wie in einem Kokon." Außerdem bekommt sie Besuch von Freunden. "Manche kommen schon regelmäßig", lacht sie. "In meinem Berliner Freundeskreis sucht immer jemand gerade ein Häuschen im Grünen."
Ihre Berliner Wohnung vermietet sie. Darum kann sie, die vereidigte Übersetzerin und Dolmetscherin, sich erlauben, weniger zu arbeiten. "Ich habe damals meinen Beruf geheiratet", sagt Giorgi. Für Landes- und Bundeskriminalämter dolmetschte sie oft in Mafia-Fällen, lernte dafür auch die ihr als Mailänderin fremden süditalienischen Dialekte. "Früher habe ich geschuftet wie eine Blöde. Als Selbstständige für Behörden zu arbeiten bedeutete auch viel Stress. Manche Einsätze fanden um drei Uhr nachts statt." Wenn Giorgi spricht, flicht sie umgangssprachliche und literarische Formulierungen mit viel Witz und Gewandtheit ineinander. Dabei lernte sie Deutsch erst mit über 20 Jahren an der Uni.
Die Einblicke in die Strukturen der Mafia, die sie durch ihre Arbeit erlangte, lassen sie bis heute nicht los. Während sie im beschaulichen Chossewitz sitzt, liest sie viele Bücher über Verstrickungen zwischen Mafia und Geheimdiensten. Seit Jahren hält sie Vorträge und verfasst Artikel über solidarische Ökonomie. Sie initiierte auch schon einen Kongress in Berlin mit, aus dem Initiativen entstanden, die es beispielsweise italienischen Bauern ermöglichen, ihre Zitrusfrüchte und Olivenöle direkt ins Ausland zu verkaufen und die Mafia-Strukturen zu umgehen.
Giorgi beschäftigt gleichzeitig die ganze Welt und das Konkrete vor Ort. Die alte Scheune in Chossewitz baut sie mit Hilfe eines angestellten Helfers aus. Der Dachstuhl ist schon erneuert. Die Feldstein-Bögen, die sogenannten "preußischen Kappen", erhielt sie. Zuvor hatte sie die Mauer zur Straße hin ist saniert. Auch aus Sicherheitsgründen. Zusätzlich zu ihren eigenen zwei weißen Katzen hat sie noch einen zugelaufenen Kater aufgenommen. Die Tiere folgen ihr zuverlässig beim Spaziergang zum See. Dass Giorgi in diesem Jahr noch 70 Jahre alt wird, mag man kaum glauben. Obwohl sie selbst sagt, sie habe langsam weniger Energie, spricht aus ihren großen Augen und pausenlos gestikulierenden, drahtigen Händen noch immer Leidenschaft für das, was sie tut.
Die Neue ist einzige Kandidatin
In dem etwa 100 Einwohner zählenden Ort hat sie schnell einen Überblick gewonnen. Mit den direkten Nachbarn gebe es manchmal Diskussionen um bauliche Fragen rund um die Grundstücke. Gleichzeitig hat sie aber in einer zugezogenen Frau aus Leipzig eine Vertraute gefunden, "fast wie eine Schwester". Als dann Anfang des Jahres die Suche nach einem neuen Ortsvorsteher anstand, fanden sich keine Kandidaten aus dem Ort. Außer ihr. Giorgi hatte sich schon in Berlin für eine bessere Verwaltung des Hauses, in dem sie lebte, engagiert. Hatte alle Eigentümer mobilisiert. Sie hat Erfahrung: "In politischen Gruppen lernt man zu kommunizieren. Ich kann das!" Und findet: "Man muss Gemeinheiten publik machen und Verbündete suchen, um nicht als Opfer dazustehen." Manchmal müsse man auch sagen, wenn Traditionen blöd sind. Das Stutzen der Straßen-Linden im Frühjahr ist für sie ein Beispiel. Sie ist engagiert, spricht gern Unbequemes aus, aber sie geht mit Bedacht vor. Ihr Redefluss stockt manchmal kurz zum Nachdenken. Sie nutzt die Ruhe an ihrem Lieblingsort am See: "In der Natur kann man besser sehen." Das neue Heim in Chossewitz ist für Giorgi keine Station mehr im Leben, sondern ihr erfüllendes Zuhause: "Der Mensch braucht das Grün für seinen Seelenfrieden."