Die Elftklässler der Wilhelm-Conrad-Roentgen-Gesamtschule wollen dem Sohn einer deutsch-jüdischen Familie lauschen, der als Kind in der Nachbarschaft am Merwedeplein in Amsterdam mit Anne Frank spielte. Heute wäre die 1945 im Konzentrationslager Bergen-Belsen ermordete junge Frau, deren Tagebuch weltberühmt wurde, 90 Jahre alt geworden.
Bundesweiter Gedenktag
Damit haben sich die Schüler beschäftigt, sie haben die Anne-Frank-Zeitung durchblättert. 30 000 Schüler in mehr als 250 Schulen erinnern sich heute bundesweit und bewusst an die damals 15-Jährige, die zwei Jahre in einer verborgenen Wohnung lebte und dann doch verraten und verschleppt wurde. Im Anne-Frank-Zentrum in Berlin, Rosenthaler Straße 39, ist dazu aktuell eine Ausstellung zu sehen. Darin wird nicht nur an Anne Frank und ihre Familie erinnert, sondern an sechs Millionen Opfer des Holocaust.
Pieter Kohnstam kannte das Nachbarskind. Er gilt als einer der wenigen, die sie noch persönlich erlebt haben. Wenn auch – dem Alter geschuldet – und mit sensibler Führung durch den Vereinsvorsitzenden Patrick Siegele vom Anne-Frank-Zentrum – mancher Erinnerung ein wenig auf die Sprünge geholfen werden muss.
Der heute in Venice in Florida lebende Senior hat seine Frau Susan dabei, die immer wieder nickt und kleine Hilfestellungen gibt. Kohnstam erzählt von seinen Eltern Hans und Ruth. Der Vater war Künstler, hatte am Bauhaus studiert, und baute in Fürth eine Spielwarenfabrik auf. Seine Kunst galt plötzlich als entartet. 1933 floh er mit seiner Frau Ruth, die weltläufig mehrere Sprachen konnte und sich sehr für Mode interessierte, vor den Nazis in die Niederlande. Die Firma wurde liquidiert. In Amsterdam kam Pieter 1936 zur Welt. In dem Viertel lebten Juden aus ganz Europa, eben auch Familie Frank.
In einem Buch hat Pieter die Erzählungen seines Vaters, der 1966 nach Deutschland zurückkehrte und in München starb, aufgeschrieben. 2006 erschien die bewegende Geschichte unter dem Titel "A Chance to Live" in den USA, zwei Jahre danach in den Niederlanden, 2016 als deutsche Übersetzung "Mut zum Leben – eine Familie auf der Flucht in die Freiheit."
Nur kurz kann er alles anreißen. Die Großmutter, die vom Milchmann über sieben Stationen nach Argentinien kam. Er wanderte mit den Eltern nach Barcelona, ging dann mit 400 anderen Flüchtlingen aufs Schiff. "Cabo de Buena Esperanza" (Kap der guten Hoffnung) hieß der Trailer, der die Familie nach Argentinien brachte.
Später wanderte der junge Mann in die USA aus und fand Susan, mit der er nun durch Deutschland und Europa reist. Er appelliert an die jungen Menschen im Raum, nie wieder zuzulassen, was in Deutschland geschah und sich Hoffnung und Optimismus zu bewahren – wie Anne Frank. Sie sei eine ganz besondere Person gewesen, habe viel gelacht und gut beobachtet. Die Fehler der Nationalsozialisten nicht zu wiederholen, das ist sein Credo an die Elftklässler.
Reise nach New York
"Ich finde, es ist etwas ganz Besonderes, diesen Menschen kennenzulernen", schätzt Schülerin Michelle Erbe aus Bernau ein. Das gesamte Gespräch auf Englisch bereitete einigen wie Julia Posdzich auch Probleme: "Ich musste mich sehr konzentrieren, fand es aber echt interessant." In Vor- und Nachgesprächen haben sich die Schüler mit dem Erzählten auseinandergesetzt. Pieter Kohnstam lacht viel, er spricht die Jugendlichen direkt an und sagt zu den Lehrern: "Unterrichtet sie, lehrt sie, nutzt ihr Potenzial!" Am 18. Juni wird Kohnstam 83 Jahre alt, dann ist er auf Reisen nach New York. Um an Anne Frank zu erinnern.
Pieter Kohnstam, "Mut zum Leben – eine Familie auf der Flucht in die Freiheit", Franconia Judaica, Band 10, Würzburg: Ergon-Verlag, 2016, 264 Seiten mit 54 Abbildungen, ISBN 978-3-05650-159-3, 19 Euro.