Politische Bildung am Humboldt-Gymnasium: eine Aula voller Schüler der elften Jahrgangsstufe. Im Podium: der in Eberswalde geborene heutige MDR-Journalist Siegbert Schefke (61), die ehemalige Linken-Abgeordnete im Brandenburger Landtag Margitta Mächtig (63) und der Eberswalder Bäckermeister Björn Wiese (48). Moderiert von Eva-Maria Grosser (Gesellschaft für Europa- und Kommunalpolitik) sind die Schüler nach kurzer Vorstellungsrunde aufgefordert, Fragen zum Thema 30 Jahre Einheit zu stellen. Und das tun sie auch, wollen unter anderem wissen, wie die Gäste das häufig beschriebene soziale Miteinander im Osten im Gegensatz zu heute bewerten.

Notgemeinschaft und Spitzel

Aus Björn Wieses Sicht habe ein vermeintlich besseres Miteinander daran gelegen, dass das System der Mangelwirtschaft und ein nicht so großes Lohngefälle die Leute zusammengeschweißt hätten. Auch Siegbert Schefke spricht den Mangel an, der zu dieser Art Notgemeinschaft führte, bringt aber auch den Punkt der Bespitzelung durch inoffizielle Stasimitarbeiter in dieses Miteinander ein. „Man musste damals schon aufpassen, wem man da vertraut. Und das möchte ich auf keinen Fall zurück“, so Schefke, der immer wieder seinen Drang nach Freiheit hervorhebt.
Margitta Mächtig sieht den Grund für den Wegfall eines stabilen Zusammenhalts der Hausgemeinschaft im wirtschaftlichen Umbruch. „Das ist zerbrochen, als die großen Betriebe zusammenbrachen und sich einige gegenüber Nachbarn geschämt haben, als sie arbeitslos wurden“, sagt sie.

Die Teilung in den Köpfen

Auch nach der Teilung von Ost und West in den Köpfen der Menschen fragen die Schüler. Aus Margitta Mächtigs Sicht werde sich das wohl erst mit der Generation nach ihren Enkelkindern erledigt haben. Wie Björn Wiese meint, könnte Corona eine solche Zeitenwende bewirken. Dann würden die Menschen vielleicht nicht mehr nach dem schauen, was vor oder nach der Wende war sondern eher das Vor und Nach Corona entscheidend sein. Moderatorin Eva-Maria Grosser greift einen Punkt auf, der schon bei Siegbert Schefke anklang. „Wir führen vielleicht vieles auf Ost und West zurück, was nur regionale Unterschiede sind“, sagt sie.

Eier-Attacke auf Helmut Kohl

Unzufriedenheiten und Herausforderungen im Osten nach dem Zusammenschluss sowie die Tatsache, dass Helmut Kohl als Kanzler der Einheit bereits im Mai 1991 im ostdeutschen Halle mit Eiern beworfen wurde, interessieren die Gymnasiasten. „Es waren den Leuten blühende Landschaften versprochen worden“, erinnert Margitta Mächtig. Als stattdessen ihre Betriebe geschlossen wurden, hätten sie sich betrogen gefühlt. Ins kalte Wasser habe sie persönlich sich damals aber nicht geworfen gefühlt, als die Menschen sich plötzlich in einem neuen System zurecht finden mussten. „Dafür gab es einfach zu viel zu tun, zu viele Aufgaben“, sagt sie und stimmt sogar Siegbert Schefke zu, dass man sich eben bewegen müsse. Schefke hatte zuvor dafür geworben, Veränderungen als Chance zu packen.

Grüner Pfeil und Pioniere

Es ist nicht der Rahmen für ein Streitgespräch in der Aula des Humboldt-Gymnasiums. Spannung zwischen den fast jahrgangsgleichen und doch so unterschiedlichen Podiumsgästen Margitta Mächtig und Siegbert Schefke, der vor über 30 Jahren fürs Westfernsehen filmte, wie Menschen in Leipzig gegen das DDR-Regime auf die Straße gingen, blitzt in einigen Momenten dennoch auf. Etwa als Schefke ungefragt deutlich macht, dass er abgesehen vom Grünen Pfeil an der Ampel nichts aus der DDR habe ins neue System mitnehmen wollen oder als Mächtig sich gegen den Eindruck wehrt, Menschen hätten nach dem Mauerfall zu Millionen die DDR verlassen.
Der Journalist Schefke, der es sich nicht nehmen lässt, bei der Schulveranstaltung auch das eigene Buch zu promoten, verrät in der Pause gegenüber der MOZ, dass er nie gedacht hätte, mal mit einer ehemaligen Pionierleiterin im Podium zu sitzen.