Freiheit in der Enge

Den lernt man wohl in einem Land, wo der Staatschef mit schwulstigen Popsongs auftritt und nur weiße Autos in seiner pompös gestalteten Hauptstadt sehen will. Anna Korostova kommt aus Turkmenistan. Ein Land, das sich isoliert und dessen Präsident als strenger Diktator gilt. Dort darf man nicht einfach alles sagen, was man denkt. Internetseiten wie Facebook und Youtube sind gesperrt, der einzig zugängliche Messengerdienst Imo werde bestimmt abgehört, erzählt sie. Aber Turkmenen protestieren nicht. "Die Leute nehmen alles an, wie es ist." Und viele hätten Angst, "für politische Aussagen ins Gefängnis zu kommen". Das alles weiß Korostova. Dennoch liebt sie ihr Heimatland.
"Es mag widersprüchlich klingen, aber ich fühle mich dort frei. Alles ist mir so vertraut", sagt die 32-Jährige. Sie kommt aus einem Vorort von Aschgabat. "Ich wohne immer neben der Hauptstadt", stellt sie fest. So war es in Turkmenistan, so ist es mit Frankfurt bei Berlin und so war es auch in ihrem Auslandsjahr in Reims nahe Paris. In Annau aber ist ihr Zuhause, sind ihre Mutter und Großeltern, ihre Freunde. Korostova ist ethnische Russin und russischsprachig aufgewachsen. Durch die sowjetische Vergangenheit ist Russisch bis heute die Sprache von Wirtschaft und Bildung in Turkmenistan. Turkmenisch versteht sie eher passiv.

Studium an der Viadrina

Dafür konnte sie früher digital deutsches Fernsehen empfangen. "Auf SuperRTL schaute ich gern Bastelsendungen", erinnert sie sich. Später lernte sie die Sprache bei einem Privatlehrer. Parallel zum Fernstudium an einer Tourismus-Universität in Puschkino bei Moskau unterrichtete sie in einem Tourismus-College, einer Art Berufsfachschule, in Turkmenistan "Tourismus-Geografie". Die Arbeit machte ihr Freude. Entgegen der weit verbreiteten Tradition, junge Leute mit von den Eltern gewählten Partnern zu verheiraten, machte ihr ihre Familie keinen Druck. Sie fühlte sich wohl. Und dennoch hat sie sich fürs Ausland entschieden.
Nach sechs Jahren Warten auf ein DAAD-Stipendium, studiert sie nun seit über drei Jahren den englischsprachigen Wirtschafts-Master "International Business Administration". Aktuell sind 29 Studierende aus Zentralasien an der Europa-Universität immatrikuliert. Aus Turkmenistan ist sie die einzige. Ihre Masterarbeit ist geschrieben, die Verteidigung steht noch aus. Leicht sei ihr die erste Zeit in der Fremde nicht gefallen. Aber sie mag die Nähe zu Polen, die Offenheit und Reisemöglichkeiten. "In Turkmenistan ist es schwierig mit dem Reisen." Aber Tourismus  ist Korostovas Leidenschaft.
Ihr DAAD-Stipendium lief nach zwei Jahren aus, als sie gerade nach Frankreich ging. Seitdem bestreitet sie ihren Lebensunterhalt selbst. Hatte einen guten, flexiblen Job bei der Messe Berlin. "Ich wollte immer zur ITB, zur Internationalen Tourismusbörse, darum bewarb ich mich dort", erinnert sie sich. Aber seit wegen der Corona-Pandemie sämtliche Großveranstaltungen wie Messen langfristig ausfallen, ist diese Arbeit weg. Und auch eine neue Zusage bei einer Dienstreisenfirma wurde vom Arbeitgeber auf "unbestimmte Zeit verschoben".

Kein Weg zurück

Korostovas Visum für Deutschland ist Anfang Mai gerade noch rechtzeitig bis September verlängert worden. An der Viadrina kennt man die Visa-Sorgen ausländischer Studierender. "Können sie aufgrund der derzeitigen Situation die geforderten Studienleistungen nicht erbringen, können sie weiter studieren und vermeiden so Probleme mit der Verlängerung", heißt es von der Uni.
Korostova hätte auch gar nicht zurückkehren können. Schon ihr Heimatbesuch im März hatte ausfallen müssen. Sämtliche Flugverbindungen waren gestrichen. Alle Einreisenden müssten in Quarantäne. Dabei gibt es offiziell keinen einzigen Infektionsfall. Beobachter bezweifeln diese Haltung der Regierung. Korostova ist froh, wenn es stimmt. Aber zurück will sie langfristig auch nicht. Denn da ist noch ein Faktor: Ihr Freund lebt in Großbritannien. Und scheint, wie so vieles gegenwärtig, von hier aus unerreichbar.

Turkmenistan

Zwischen Afghanistan, Iran, Usbekistan, Kasachstan liegt eines der erdgasreichsten Länder der Erde. Aschgabat zerstörte 1948 ein Erdbeben. Rund 800 000 der 5,9 Millionen Einwohner des Landes leben heute hier.Im März 1991 stimmten offiziell 99,8 Prozent der Bürger für den Verbleib in der Sowjetunion. Mit deren Zerfall wurde das Land im Oktober dennoch selbstständig. Heute ist es islamisch geprägt und wird autoritär regiert. In der Rangliste der Pressefreiheit 2020 von Reporter ohne Grenzen liegt Turkmenistan auf Platz 179 von 180 bewerteten Staaten. Nur Nordkorea ist schlechter. red