Das kleine Land, das selbst nur vier bis viereinhalb Millionen Einwohner hat, nahm über eine Million Syrer auf. "Das ist einfach nicht zu schaffen", sagt Dr. Pfützner. Deshalb machten sie und elf weitere Freiwillige sich auf nach Zahlé im Libanon, an dessen Stadtrand sich – zwischen Feldern – ein Zeltlager für Geflüchtete befindet. Weit entfernt von Schule, Supermarkt und Arzt.
Allgemeinarzt, Gynäkologin, Krankenschwester, Kinderarzt, Zahnarzt, Trauma-Therapeutin, sie alle packen Medikamente und Arbeitsmaterialien ein und bauen in der Kirche der Zahlér Baptisten-Gemeinde ihre provisorischen Behandlungsräume auf. In einer Woche kommen 700 Patienten. Eine Frau mit verbrannten Beinen, ein unterernährtes Baby, Kinder und Erwachsene mit kaputten Zähnen. "In Syrien gab es früher ein gutes Gesundheitssystem", berichtet Dr. Pfützner. Mittlerweile seien nicht nur die Füllungen und Brücken in den Mündern der dort seit bald acht Jahren lebenden Patienten kaputt.
Vieles wird improvisiert
Die 66-jährige Allgemeinmedizinerin, die ihre Fürstenwalder Praxis vor gut zwei Jahren abgab und in Hangelsberg lebt, fragte ihre Nachbarin Gerda Dreher, ob sie mitkommt. Denn bis vor einigen Monaten arbeitete diese mit ihrem mittlerweile verstorbenen Mann in dessen Zahnarztpraxis. "Ich hatte noch viel Material", berichtet Gerda Dreher. Ohnehin wurde noch eine Zahnarzthelferin für die Libanon-Reise gesucht.
Vieles wird vor Ort improvisiert. Zum Beispiel als der Kompressor kaputt geht und während der Unruhen im Oktober die Geschäfte geschlossen waren. Die Helfer müssen zusammenlegen und über ihren Dolmetscher jemanden finden, der ihnen einen neuen verkauft.
Die Ausstattung für die "Zahnarztpraxis" in der Kirche muss in vier Koffer passen – sehr aufwendig, berichtet Gerda Dreher und zeigt ein Foto von einem zum Behandlungsstuhl umfunktionierten Liegestuhl. Den Patienten, die eine Operation bekommen, erklären sie und der Zahnarzt, wie sie selbst die Fäden ziehen. "Die müssen nach zehn Tagen raus, aber wir waren nur sieben dort", sagt Dreher.
Sie und Gisela Pfützner sind die einzigen Ostdeutschen bei dem Einsatz. Die Einsätze werden regelmäßig vom Verein Himmelsperlen International organisiert. "Das ging oft ganz schön an die Nieren", erzählt Gerda Dreher. Als Gisela Pfützner kürzlich in der Fürstenwalder Domnotkirche ihr ehrenamtliches Engagement vorstellt, fragt jemand, wie sie zurecht kommt, wenn sie aus Beirut zurück nach Berlin fliegt. "Ich bin dieses Mal schwer angekommen, muss ich sagen." Als sie im April dort war, habe eine Allgemeinärztin am letzten Tag gar geweint.
27 Euro – aber nicht für Männer
Dieses Mal nimmt sie das Schicksal eines dehydrierten, vierwöchigen Kindes besonders mit. "Das Baby hat überlebt", erzählt sie. Allerdings: Die Mutter, allein mit fünf Kindern, kann nicht mehr stillen. Die Fertignahrung kostet für vier Monate 300 Euro. Die Frau ist selbst schwer krank, müsste eine Chemotherapie oder Bestrahlung bekommen. "Das ist bitter", sagt die Medizinerin leise. Der Staat kümmere sich nicht um die Geflüchteten, von der UN bekommen Frauen und Kinder 27 Euro im Monat – Männer nichts, denn sie sollen arbeiten.
Bei lebensnotwendigen Operationen zahlt UNHCR (Hochkommissariat der Vereinten Nationen für Flüchtlinge) drei Viertel der Kosten, der Rest sind Spenden. Dr. Gisela Pfützner und die anderen Helfer arbeiten ohne Bezahlung, meist in ihrer Urlaubszeit, zahlen selbst je 400 Euro für Flug und Unterkunft.  16 Einsatzteams wechseln sich ab, ein dort lebendes Ehepaar – eine Krankenschwester und ein Physiotherapeut – leitet die Befunde weiter.
Zahlé ist überwiegend von Christen bewohnt, das Zeltcamp vor allem von Muslimen. Auch Sprache und Kultur seien zunächst fremd. Doch vor Ort entsteht etwas, den Menschen möchte sie "lieb begegnen". Dafür hospitierte sie sogar vier Wochen in der gynäkologischen Praxis von Margit Reincke, um im Libanon auch in diesem Bereich zu helfen. "Ursprünglich wollte ich sowieso Gynäkologin werden."
In Markkleeberg bei Leipzig groß geworden, zogen sie, ihr Mann und die Kinder in den 1980er Jahren nach Hangelsberg um. "Als ich meine Praxis abgab, wollte ich etwas Wichtiges machen", sagt die Ärztin. Mit heute 14 Enkeln konnte sie sich aber nicht vorstellen, das Land länger zu verlassen. Als ihr eine 75-jährige Ärztin 2018 von ihrem Libanon-Einsatz erzählte, war sie skeptisch. Ein schönes Land, die "Schweiz des nahen Ostens" – aber so nah am Krieg. Das waren ihre Gedanken. Aber auch: "Wenn ich das nicht mache, habe ich den Ruf überhört, auf den ich eigentlich gewartet habe."
Mehr zum Verein: himmelsperlen.org

Sechs Fragen an Dr. Gisela Pfützner

Welche Person hat Sie in Ihrer Entwicklung am meisten beeinflusst, geprägt? Mehrere: Einer meiner Lehrer, der an mich glaubte und meinen Weg zur erweiterten Oberschule trotz fehlender Jugendweihe befürwortete. Und ein Seelsorger aus der Zeit des Studiums, des Examens und der Assistenzarztzeit. Dieser Mann war kein Theologe oder Psychologe, er war ein "Naturtalent", hatte einen einfachen Beruf, aber praktizierte "verstehendes Zuhören" ohne den Begriff zu kennen. Er predigte einen nicht an, in der Hauptsache lebte er vor.
Was würden Sie als erstes veranlassen, wenn Sie Bürgermeisterin von Fürstenwalde wären? Eine meiner ersten Amtshandlungen: Ich würde veranlassen, dass alle Ärzte, die regelmäßig Patienten im häuslichen Bereich versorgen, eine Sonderparkgenehmigung erhalten, gültig solange der Arzt seine Praxis führt.
Möchten Sie noch einmal 17 Jahre alt sein? Nein, ich hatte bis hierher ein erfülltes Leben.
Träumen Sie gerne? Ja, ich habe noch Träume.
Was wünschen Sie sich seit Jahren? Frieden
Was hält Sie hier?Würden Sie woanders hinziehen? Hier ist unsere Wahlheimat! Wir sind 1985 aus Schkopau – zwischen Merseburg und Halle, bekannt durch die Buna-Werke – nach Fürstenwalde gekommen. Mich hält meine Gemeinde, mein Hauskreis, immer noch der Dienst am Patienten. Lisa Mahlke