"Wir, die Unterzeichner, sind deutsche und polnische Bürger der europäischen Region Uckermark / Westpommern. Durch die aktuellen Maßnahmen zur Bekämpfung des Corona-Virus machen wir uns große Sorgen um die Entwicklung der deutsch-polnischen Beziehungen. Wir befürchten, dass die mühsam erreichte Annäherung und das gute nachbarschaftliche Zusammenleben durch neue Grenzziehungen beeinträchtigt oder langfristig sogar zerstört werden könnte.
Familien wochenlang getrennt
Wenn die Grenzen wieder sichtbar sind und militärisch bewacht werden, wenn polnische Ärztinnen oder Ärzte, die in Deutschland arbeiten, ihre Familien wochenlang nicht sehen dürfen, weil sie nach Feierabend in einem deutschen Hotel übernachten müssen, statt wie bisher einfach nach Hause zu fahren, wenn polnische Erntehelfer nicht oder nur auf großen Umwegen nach Deutschland einreisen dürfen, um das dringend benötigte Zusatzeinkommen zu erarbeiten, wenn polnische Pflegekräfte sich nicht mehr um ihre deutschen Patienten kümmern können. Dann reißen politische Entscheidungen in Berlin und Warschau das auseinander, was die Bürgerinnen und Bürger in unserer Region über Jahrzehnte hinweg zusammengebracht hat. Es ist schmerzhaft zu sehen, wie diese Errungenschaften nun aufs Spiel gesetzt werden.
Bis heute leben polnische Bürger in Deutschland, arbeiten in Polen; deutsche Bürger leben in Polen und arbeiten in Deutschland oder Polen und deutsch-polnische Familien leben in Polen, die Partner arbeiten in Deutschland und Polen. Grenzen? Sind unsichtbar und unbedeutend. Wenn irgendwo Europa entstanden und zur Blüte gelangt ist, dann ist es in unserer Region – und es war und ist ein Europa der Bürger.
Uns, den Unterzeichnern, haben sich Möglichkeiten eröffnet, von denen wir nie geträumt hätten. Wir hatten die Gelegenheit mit zu helfen, Medizin für die Menschen auf beiden Seiten der Oder gemeinsam zu gestalten: Zahlreiche politisch unterstützte und geförderte Projekte wie "Telemedizin" oder die Untersuchung von Neugeborenen auf seltene Erkrankungen und gemeinsame wissenschaftliche Kongresse sind Meilensteine dieser Entwicklungen. Wir haben unsere Mitarbeiter und Kollegen zusammengebracht und gemeinsam klinische und wissenschaftliche Entwicklungen angestoßen.
Die Basis dafür waren Vertrauen und Freundschaft – zwei Kategorien, die in den deutsch-polnischen Beziehungen noch nicht so lange existieren. Seit 2013 unterrichten wir gemeinsam in einem deutsch-polnischen Medizin-Studiengang junge Studierende, denen wir neben dem Fachwissen auch vermitteln, dass es – bei allen Unterschieden – normal und richtig ist, in Freundschaft und guter Nachbarschaft miteinander zu leben.
Hart erkämpfte Normalität
Das alles sind Errungenschaften, die oft hart erkämpft werden mussten und keineswegs selbstverständlich sind. Wir, die Unterzeichner, sind selbst überzeugte Europäer, mussten aber nicht selten auch Kollegen und Mitarbeiter erst davon überzeugen, dass der Wegfall von Grenzen nicht als Bedrohung, sondern als Chance verstanden werden sollte.
Es ist aber keineswegs so, dass sich die gute Nachbarschaft, das Europa der Bürger in der Uckermark und in Westpommern auf den medizinischen Bereich beschränkt: Dass Deutsche und Polen zusammen leben und arbeiten, ist in unserer Region in fast allen Bereichen gelebter Alltag geworden. In unserer Region leben wir, die Bürger, Europa und wollen es auch nicht mehr anders.
Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, sehr geehrter Herr Staatspräsident, bitte tragen Sie Sorge dafür, dass das Europa der Bürger in unserer Region erhalten bleibt!"