Es war jener 20. Juli 1984, an dem Leichtathletik-Geschichte geschrieben werden sollte. Im Berliner Jahn-Sportpark hatte sich die Weltelite versammelt. Auf der Pressetribüne war es übervoll und eng. Plötzlich hallte uns über die Köpfe der Kollegen hinweg ein herzliches „Glück auf“ entgegen. Als sich Wolfgang von der Burg und ich umdrehten, hatte hinter uns Heinz Florian Oertel seinen Reporterplatz eingenommen. In einem hellen Trenchcoat gekleidet, mit einem frohen Lächeln im Gesicht beugte er sich über die Sitzlehne und begann ein kurzes Gespräch mit den beiden Sportredakteuren aus Cottbus. „Grüßt mir die Lausitz“ gab er uns schließlich mit auf den Weg, ehe wir uns alle dem Geschehen im vollbesetzten Stadion widmeten. Und den ersten Speerwurf über 100 Meter erlebten – als der Potsdamer Uwe Hohn mit 104,80 Metern einen Ewig-Weltrekord markierte.
Die Episode liegt Jahrzehnte zurück. Doch sie ist für mich lebendige Erinnerung an einen Lausitzer, der zu Lebzeiten zur Legende wurde, zur Sportreporter-Legende. Er hat mit seiner Aura, mit faktenreichem Wissen und exzellenter Sprache die DDR-Sportberichterstattung in Funk und Fernsehen geprägt. Am 27. März ist der gebürtige Cottbuser im Alter von 95 Jahren (geboren: 11. Dezember 1927) in Berlin verstorben. Das bestätigte ein Familienmitglied gegenüber MOZ.de. Eine große Fan-Gemeinde auch in Brandenburg trauert um Heinz Florian Oertel.
„Die vielen Leserbriefe aus der Lausitz bestärken mich, vor Kritik nicht Halt zu machen.“
Oertel schreibt auch für die Rundschau
Seine Berühmtheit in der Region hat er sich auch damit erworben, dass er Woche für Woche in der „Lausitzer Rundschau“ seine Kolumne „Diesmal ohne Mikrofon“ schrieb. Ob im Leistungs- oder Freizeitsport – der große HFO wusste von unzähligen Episoden aus den Anfangsjahren nach 1945 zu erzählen, von Kontakten zu den Briesker Fußball-Knappen, den Motorsportlern aus Fürstlich Drehna, Hänchen und Lübbenau. Und natürlich den Assen des 1966 gegründeten SC Cottbus. In seinen Texten verstand er es immer wieder, den Bogen von den Assen in der Welt des Sports zu den vermeintlich Kleinen – den Tröbitzer Federballern, den Hockeyspieler von Lok RAW Cottbus, den Billardkegler aus Leuthen-Oßnig, den Cottbuser Turnieranglern und vielen mehr – zu spannen. Nicht selten übte er in den gut 100 Druckzeilen auch Kritik, womit er bei Sport- und Parteiführung aneckte. Doch er ließ sich den Mund nicht verbieten, indem er etwa die Reduzierung der DDR-Eishockey-Oberliga auf zwei Dynamo-Mannschaften in Berlin und Weißwasser geißelte. Seinen Kritikern hielt er entgegen, dass ihn die vielen Leserbriefe aus der Lausitz bestärken würden, vor solchen Themen nicht Halt zu machen. Für viele Lausitzer, die auch nach der politischen Wende seine Buchlesungen und Diskussionsveranstaltungen in der Region nicht versäumten, dürfte er auch deshalb unvergesslich bleiben.
Oertel – Ein Cottbus erobert die Welt
Heinz Florian Oertel, der am 11. Dezember 1927 in Cottbus geboren wurde, hat als Reporter in über 50 Berufsjahren die Welt bereist. Nach dem Zweiten Weltkrieg versuchte er im zerstörten Cottbus, zunächst als Schauspielanfänger im Stadttheater und später als Lehrer sein Geld zu verdienen. Sein Reporter-Debüt gab er 1949 beim „Sender Cottbus“ mit der Reportage über das Endspiel um die brandenburgische Meisterschaft im Frauen-Feldhandball. Hier ist man auf seinen für DDR-Verhältnisse ungewöhnlich lockeren Plauderton aufmerksam geworden, auf die bildhafte Sprache. Bewunderung löste seine Berichterstattung von der Internationalen Friedensfahrt, der Tour de France des Ostens, in den 1950er- und 1960er-Jahren aus. Oertel verewigte sich in den Herzen der Sportfans, indem er sich emotionsgeladen „aus dem fahrenden Übertragungswagen“ von den Straßen zwischen Berlin, Prag und Warschau meldete und dem Publikum die Radhelden um Täve Schur, Klaus Ampler oder Bernhard Eckstein ganz nahe brachte. „Während ich mich auf der Straße gequält habe, hat er aus dem Auto gekonnt großkotzig großartige Reden geschwungen“, hatte sich der zweimalige Rad-Weltmeister Täve Schur zu Oertels 85. Geburtstag mit dem ihm eigenen Schalk zu Wort gemeldet. Es gab kaum einen DDR-Bürger, der den kahlköpfigen Reporter Oertel nicht kannte.
„Ich wollte immer mehr als informieren, ich wollte unterhalten.“
Von 1951 bis 1991 arbeitete Oertel beim Berliner Rundfunk, seit 1955 beim DDR-Fernsehen. Bis zum Mauerfall war HFO fast überall dabei, wo DDR-Sportler um Gold, Silber und Bronze kämpften: bei 17 Olympischen Spielen, bei Weltmeisterschaften im Radsport, der Leichtathletik oder bei 25 Welt- und Europameisterschaften im von ihm besonders geschätzten Eiskunstlauf. Oertel kommentierte acht Fußball-Weltmeisterschaften für das DDR-Fernsehen. „Ich wollte immer mehr als informieren, ich wollte unterhalten“, umriss er einmal bei einer Berliner Gesprächsrunde mit Promi-Anwalt Peter-Michael Diestel seinen journalistischen Anspruch.
„Ich war eher ein Mehrkämpfer am Mikrofon als ein Spezialist.“
Oertel war eher Mehrkämpfer als Spezialist
Und den setzte er auch um. So war Oertel auch Entertainer, der sich nicht davor scheute, die „Schlager einer großen Stadt“ via Bildschirm zu präsentieren oder Prominenz aller Couleur im „Porträt per Telefon“ (254 Folgen) – der ersten Live-Talkshow des DDR-Fernsehens – Geheimnisse zu entlocken. Im Hörfunk fanden seine Sendungen ein riesiges Publikum. „Ich war eher ein Mehrkämpfer am Mikrofon als ein Spezialist“, sagte er über sich selbst. Grund seiner Popularität bei den Hörern und Zuschauern war vor allem der emotionale Stil seiner Berichte. Detaillierte Beschreibungen äußerer Umstände, Wetter oder Stimmung, Gestik und Mimik der Top-Sportler gehörten zu Oertels Repertoire, der aber auch stark polarisierte. Nicht jeder mochte seinen geschwollenen Sprachstil, dennoch wurde er vom Publikum 17-mal zum „Fernsehliebling des Jahres“ der DDR gewählt.
Bei unserem letzten Kontakt zu seinem 85. Geburtstag 2012 bestätigte sich am Ende des Gesprächs einmal mehr: kein Oertel-Telefonat ohne Episode. Damals erzählte er, dass es in seinem Haus keinen Computer gebe. Ich schreibe noch immer auf einer Schreibmaschine aus Sömmerda, Baujahr 1938. Alle Texte seiner Bücher seien darauf entstanden. Sein Verlag habe gewusst, worauf er sich einlässt. Heinz Florian lachte und ich fühlte mich versetzt in den Jahn-Sportpark 1984. An eine Begegnung, die ich nie vergessen werde.
Seltener Einblick ins Private und „Waldemar ist da!“
Selten hat Heinz Florian Oertel, der vom Westen nach der Wende als populäres Sprachrohr des alten Systems im Osten ignoriert wurde, in sein Privatleben hineinschauen lassen. Aber Journalistenkollege und „Tagesschau“-Sprecher Jan Hofer, der ihn für ein Buch interviewte, erhielt Antworten. Etwa zu den Töchtern Andrea und Annette sowie Sohn Matthias. „Unsere Tochter Annette ist mit 44 Jahren an Krebs gestorben", erzählte er. Schauspieler Eberhard Esche, der Vater des Enkels Jonathan, sei zwei Jahre vor ihr gestorben. „Jona ist Vollwaise und lebt bei uns. Er ist unser Sonnenschein, macht uns viel Freude.“ Oertel und seine Frau haben „eine riesige Aufgabe und Verantwortung übernommen, und wir machen es gern, und es ist ein Glück“.
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Einen denkwürdigen Moment der DDR-Fernsehgeschichte schuf Oertel mit seinem legendären Ausruf „Liebe junge Väter oder angehende, haben Sie Mut! Nennen Sie Ihre Neuankömmlinge des heutigen Tages ruhig Waldemar! Waldemar ist da!“, mit dem er live via TV den zweiten Marathon-Olympiasieg des Hallensers Waldemar Cierpinski bei den Sommerspielen 1980 in Moskau kommentierte.