Doch wer vor der Abenddämmerung auf der Südseite an der Admiralsstraße aus dem Untergrund taucht, sieht ein anderes Bild. Unter den bunten Schirmen und Laubbäumen im Biergarten des Café Südblock sitzen Familien, Studenten und Senioren. Alteingesessene Migranten und zugezogene Biodeutschen plauschen bei Tee und Hefeweizen über Gott und die Welt.
In dem Kiezcafé gibt es auch einen Queer-Treff, Kunstevents, einen Haarsalon und Hartz 4-Beratung. "Die Besitzer sind selbst alte Kreuzberger. Sie sind nicht nur auf Profit bedacht, sondern haben ein sehr sensibles Händchen für die Nachbarschaft", findet Sandy Kaltenborn. Am Vormittag hat der Grafik-Designer neue bunte Bilder am Viadukt der Hochbahn angebracht.  Es sind die comicartigen Selbstportraits von Sechstklässlern der Jens-Nydahl-Grundschule. Auf der Nordseite des U-Bahnhofes sieht man dagegen die Bilder von erwachsenen Bewohnern, die im Rahmen des Projektes "Denkbilder der Nachbarschaft" entstanden sind.
Für Kaltenborn sind die Bilder nicht nur Kunst und Aufhübschung, sondern vor allem ein Statement. "Es wird in den Medien immer über den Kotti gesprochen, aber die Bewohner selbst kommen nicht zu Wort", sagt der 50-Jährige.
Leben am Brennpunkt
Es sind immerhin 2000 Menschen, die an Berlins verschriensten Platz ihr Zuhause haben, schlafen gehen, zur Schule gehen, ein Leben leben. Kaltenborn selbst, der in Essen geboren wurde, schon in San Francisco gewohnt und an der Kunsthochschule Weißensee studiert hat, gehört seit neun Jahren dazu. Ein kleiner Rundgang mit ihm reicht aus, sein eigenes Klischee vom Kotti über den Haufen zu werfen.
Wir treffen uns am "Gecekondu", einem aus Spanholz errichteten Häuschen. Die türkische Bezeichnung steht für eine informelle Siedlung. Genau übersetzt bedeutet Gecekondu "nachts hingestellt". Der hölzerne Info-Pavillon  wurde vor sieben Jahren von den Mitgliedern der Mietergemeinschaft Kotti & Co illegal auf den öffentlichen Platz gestellt. Seitdem kämpfen sie für ihr Recht auf bezahlbaren Wohnraum.
Inzwischen ist er eine Institution am Kotti. An diesem Abend finden sich wie jeden ersten und dritten Montag ein paar Anwälte ein, die kostenlose Mieterberatungen durchführen. Etwa 80 Prozent der Anwohner am Kottbusser Tor haben einen türkischen Migrationshintergrund. Viele sind Migranten der ersten Generation, die den Kiez belebten, als er noch eine Endstation an der Mauer war. Heute fühlen sie sich von den Sauf-Touristen belästigt, die im Rewe vorglühen und sich Stoff bei den Straßendealern besorgen, bevor sie weiter in die Clubs an der Oranienstraße oder nach Kreuzkölln ziehen.
Doch die wirkliche Bedrohung kommt von den Investoren, die die die Mieten erhöhen. Vor zwei Jahren konnte der Verkauf des Neuen Kreuzberger Zentrums, der markante weiße Gebäuderiegel, der sich über die trubelige Adalbertstraße spannt, nach langem Kampf abgewendet werden. Das markante Gebäude ist nun im Besitz der städtischen Gewobag. "So haben wir 300 Sozialwohnungen und 90 Gewerbeeinheiten gesichert", sagt Kaltenborn, der sich seit Jahren in der Mietenpolitik engagiert.
90 Gewerbeeinheiten gesichert
Und so genießt Berlins erster türkischer Buchladen, der auch Nachhilfeunterricht anbietet, auch nach 20 Jahren Bestandsschutz. In den ehemaligen Laden, in der die legendäre Kreuzberger 36 Boys-Gang einst T-Shirts verkaufte, ist kein weiterer Späti oder Burgerladen eingezogen. Stattdessen arbeiten in dem Nachbarschaftstreff Damen der Theatergruppe bei Tee und Keksen ein neues Stück aus. Hier, unter dem Hochhausriegel, wo es nachts oft zu Polizeieinsätzen wegen Drogen und Krawall kommt, treffen sich die Nachbarn am Vormittag zum Spielplatzplanungs-Frühstück. Seit ein Baum auf die Anlage neben dem neuen Bibliotheks-Lesegarten gestürzt ist und er gesperrt ist, wollen die Anwohner auch dieses Areal in Eigenregie entwickeln und verwalten.
Nie ein Ponyhof
Kaltenborn, auch Mitglied im Mieterrat und Mitbegründer der Aktionsgruppe Süd, hat ein paar Nachbarschaftszeitungen dabei, in denen in Deutsch und Türkisch erklärt wird, was schon alles erreicht wurde und was noch alles zu tun ist. Zum Beispiel um die beiden Südblocks zu kämpfen. "Dort läuft die soziale Förderung 2023 aus, dann hat die Deutsche Wohnen noch mehr Möglichkeiten, die Mieten zu erhöhen", sagt der Kommunikationsdesigner, der selbst im neunten Stock wohnt. Auch er will nicht weg. "Der Kotti wird nie ein Ponyhof. Aber wir sind bunt und vielfältig. Und haben eine wunderbare Wohngemeinschaft."
Die Ausstellung "Wir sind der Kotti" wird am Donnerstag mit einer Kinderdemo eröffnet. Start ist 13.30 Uhr, Kohlfurter Straße 20, Ende 15 Uhr am U-Bahnhof

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