Herr Trenczek, traurige Kinderschicksale sorgen regelmäßig für Schlagzeilen. Wie nehmen Sie das als Wissenschaftler wahr?
Wenn wir über Inobhutnahmen sprechen, gibt es keinen Grund zur Dramatisierung. Nur in einem Drittel der Fälle geht es um Kindesmisshandlung, sexuellen Missbrauch oder extreme Vernachlässigung. Jeder Fall davon ist einer zu viel. Aber meist geht es um Hilfe in akuten Krisen, wenn Eltern in bestimmten Situationen überfordert sind. Dann regen die Jugendämter manchmal eine Inobhutnahme der Kinder etwa in Jugendschutzstellen an. Oft willigen die Eltern darin ein.
Wie geht es in solchen Fällen weiter?
Die Inobhutnahme ist laut Gesetz eine vorläufige, kurzfristige Intervention. Innerhalb von einigen Tagen wird mit den Eltern geschaut, wie die Situation gelöst werden kann, ob weitere Hilfen nötig sind. Wichtig: Es geht nicht um das Wegnehmen der Kinder. Meistens gehen sie nach kurzer Zeit wieder zurück in die Familien. Viele Anschlusshilfen erfolgen dann ambulant.
Die Tagung in Erkner ist damit überschrieben, dass die Inobhutnahme "seit Jahren unter Druck" stehe. Was ist damit gemeint?
Unter Druck stehen insbesondere die Jugendämter, weil sie es niemand recht machen können. Entweder alle beklagen sich, dass die Ämter zu spät intervenieren, zu spät Hilfen anbieten, wenn es zu tragischen Todesfällen oder schweren Misshandlungen kommt. Oder es gibt Beschwerden darüber, dass sich das Jugendamt zu früh in Familienangelegenheiten einmischt.
Ist es ein Alarmsignal für die Gesellschaft, wenn die Zahl der Inobhutnahmen steigt?
Die Zahlen für ganz Deutschland belegen nicht, dass dem so ist. Und selbst wenn, das wäre kein Zeichen dafür, dass es mehr Misshandlungen oder Vernachlässigungen gibt, sondern dass mehr Sensibilität besteht, dass genauer hingeschaut wird. Nur weil immer wieder einige wenige schreckliche Misshandlungen bundesweit ein großes Medienecho finden, heißt das nicht, dass das Problem zunimmt.
Was setzt die Jugendämter noch unter Druck?
Die Fachkräfte müssen innerhalb kürzester Zeit entscheiden, oft in der Nacht. Das sind sehr schwierige Abwägungen. Und es sind viele Fälle, um die sich die Mitarbeiter kümmern müssen.
Welche Verbesserungsmöglichkeiten diskutieren Sie auf der Tagung?
Es geht vor allem um fachliche Standards bei der Inobhutnahme. Was darf man, was muss man wann und wie tun? Und es geht um die richtigen Rahmenbedingungen für die Arbeit der Jugendämter und Inobhutnahme-Einrichtungen. Obwohl wir ein einheitliches Bundesgesetz haben, gibt es hier innerhalb Deutschlands enorme Unterschiede, je nach kommunaler Kassenlage und politischem Willen vor Ort.
Wie könnte man dies ausgleichen?
Wir versuchen das vor allem über die Kommunikation der fachlichen Standards. Das Problem ist, dass die Umsetzung unter die kommunale Selbstverwaltung fällt. In manchen Kommunen ist die Fallbelastung der Fachkräfte doppelt so hoch wie in anderen. Das hat natürlich enorme Auswirkungen auf die Arbeit.
Man hört immer wieder von unbesetzten Stellen in Jugendämtern...
Der Fachkräftemangel ist in diesem sozialpädagogischen Bereich in der Tat groß. Es ist ein sehr schlecht bezahlter Job mit einer extrem hohen Verantwortung.
Was ist zu tun?
Wie gesagt, die Unterschiede zwischen den Kommunen sind groß. Manchmal werden fachliche Standards einfach ignoriert. So muss ein Jugendamt einen 24-Stunden-Bereitschaftsdienst mit mindestens zwei Fachkräften vorhalten. Es gibt Kommunen, die sagen: "Das haben wir noch nie so gemacht. Wir überlassen das der Polizei." Das ist rechtswidrig. Obwohl ich und andere das kritisch ansprechen, ändert sich mancherorts nichts. Man hat mitunter auch den Eindruck, dass die Kommunen von den Ländern und dem Bund bei dieser Aufgabe allein gelassen werden.
Zur Person
Der Rechts- und Sozialwissenschaftler Thomas Trenczek, Jahrgang 1960, ist Professor an der Ernst-Abbe-Hochschule Jena. Eines seiner Spezialgebiete sind die fachlichen und rechtlichen Aspekte der Inobhutnahme, also der vorläufigen Aufnahme von Kindern und Jugendlichen in Notsituationen durch das Jugendamt. Heute eröffnet Trenczek in Erkner mit einem Vortrag eine Tagung der Fachgruppe Inobhutnahme in der internationalen Gesellschaft für erzieherische Hilfen (IGFH). mat
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