Die Verbrechen der deutschen Besatzer in Polen im Namen einer Politik der Germanisierung, die sie in ihrer Ausstellung thematisieren, sind vergleichsweise wenig bekannt. Warum hat es so lange gedauert, bis diese Schicksale beschrieben werden konnten?
Im kommunistischen Polen standen die Vertreibungen aus den ins Reich eingegliederten Gebieten Polens im Hintergrund, weil sie mit dem Hitler-Stalin-Pakt zu tun hatten, der ein Tabu-Thema war. In den Zusatzprotokollen zum Pakt war vereinbart, dass die sogenannten Volksdeutschen aus dem 1939 von der Sowjetunion annektierten Gebieten Ost- und Mitteleuropas "heim ins Reich" geholt werden sollten. Diese Volksdeutschen siedelten die Nazis im neu gegründeten "Warthegau" an, der von Posen bis Lodz und kurz vor Warschau reichte. Die Sowjetunion zahlte Deutschland Entschädigung für das zurückgelassene Eigentum der Volksdeutschen. Nach 1989 befasste man sich erst einmal mit den kommunistischen Verbrechen und mit dem Holocaust.
Das Wort "Vertriebene" war lange Zeit ausschließlich ein Begriff für die deutschen Vertriebenen.
Ja, es war belastet, weil es mit der Sprache der Vertriebenenverbände zu tun hatte. Manche polnische Historiker kritisierten die Verwendung des Wortes für die 1939 deportierten Polen: Weil es die Deportationen, die ein Kriegsverbrechen waren, mit der Vertreibung der Deutschen gleichsetze, die entweder eine direkte Folge von Kriegshandlungen oder eine in Potsdam international anerkannte Maßnahme seien.
Was entgegnen Sie?
Der Begriff zeigt den kausalen Zusammenhang von beiden Vertreibungen, 1939 und 1945. Die Ausstellung – an über 30 Orten in Polen gezeigt – haben auch viele Opfer, "Vertriebene 1939", besucht. Sie sagten, endlich sei ihr Schicksal treffend genannt. Sie hatten all ihr Hab und Gut verloren, in 15 oder 30 Minuten ihr Zuhause verlassen müssen, sie durften nur Handgepäck mitnehmen, alles, was Wert hatte, bis auf Eheringe, mussten sie zurücklassen.
Wie viele Menschen wurden im Zuge der Germanisierungspolitik aus- und umgesiedelt?
Am konsequentesten verfolgten die Nazis im "Warthegau" diese Politik. Dort lebten rund vier Millionen polnische Staatsbürger. Etwa 400 000 wurden ins "Generalgouvernement", das Besatzungsgebiet rund um Warschau und Krakau, deportiert. Weitere 300 000 blieben, mussten aber ihre Häuser für Deutsche räumen. Etwa 600 000 jüdische Polen wurden deportiert und umgebracht. Eine Dunkelziffer floh. Man schätzt, dass 1,5 Millionen polnische Bürger betroffen waren, und da sind Zwangsarbeiter noch nicht eingerechnet. Wie viele Volksdeutsche kamen, ist nicht ganz klar. 1944 begrüßte Gauleiter Greiser den millionsten deutschen Umsiedler im "Warthegau".
Wie kamen Sie zur Beschäftigung mit dem Thema?
Ich habe mich schon lange als freier Journalist und TV-Produzent in Poznan mit dem Alltag in der Besatzungszeit befasst. Dann bekam ich einen Auftrag, 15 Deportierte zu interviewen. Ich schämte mich, dass ich so wenig wusste von dem, was die Leute mir erzählten. In meiner Familie wurde am Kaffeetisch viel über den Krieg geredet, trotzdem hatte ich das Ausmaß nicht begriffen. Der "Warthegau" war im gewissen Sinne ein Labor für den Holocaust. Adolf Eichmann war für die Logistik zuständig und hat diese dann für den Mord an den Juden angewandt. Im Zuge dieser Interviews sammelte ich sehr viel Material. Es entstanden der Film "Eine blonde Provinz" und die Ausstellung, die wir in Polen erstmals vor zehn Jahren zeigten. Vor drei Jahren haben wir sie in die deutsche Fassung gebracht und in Berlin gezeigt.
Teilen Sie die Auffassung, dass man sich im deutschen Erinnerungsdiskurs zu wenig mit den Kriegsverbrechen in Polen befasst?
Ich weiß, dass der historische Diskurs in Deutschland schon viel geleistet hat, den Holocaust aufgearbeitet hat. Dennoch fehlt ein Gesamtbild, was die Besatzung bedeutete und unter welchem Druck die Bevölkerung stand. Die Beschäftigung mit den nazistischen Verbrechen ist bodenlos, 70 Jahre nach dem Krieg kommt jedes Jahr eine neue Facette zum Vorschein.

Zur Person

Jacek Kubiak, geboren 1957 in Poznan, hat sich als freier Journalist, TV-Produzent und Ausstellungsmacher besonders mit der Vergangenheit im Zweiten Weltkrieg befasst. Zuletzt hat er im Posener Verlag Posnania ein Oral-History-Archiv aufgebaut. Zur Eröffnung der Ausstellung "Vertriebene von 1939 …" am 29. Oktober spricht er um 17 Uhr in der Marienkirche in Frankfurt. Sein Film "Eine blonde Provinz" wird am Mittwoch um 18 Uhr im Museum Viadrina im Beisein des Filmemachers gezeigt. nmw