Die Zahl der Todesopfer rechter Gewalt in Brandenburg seit der Wiedervereinigung ist alarmierend. Doch es gibt entscheidende Diskrepanzen bei den Statistiken: Die staatlich veröffentlichten Zahlen unterscheiden sich erheblich von den Statistiken von Opferorganisationen. Woran liegt das?
Staatliche Stellen zählen seit 1990 insgesamt 114 Todesopfer rechter Gewalt (Stand: 23. August 2022) in der Bundesrepublik, so das Bundeskriminalamt (BKA) auf Nachfrage dieser Zeitung. Dies macht allerdings nur einen kleinen Teil der Gewaltdelikte mit rechter Motivation aus. Denn die Behörden erfassen jährlich mehrere hundert bis tausend Gewaltdelikte mit entsprechender Motivlage.
Von der Gesamtzahl der Todesopfer rechter Gewalt in Deutschland entfallen, laut brandenburgischen Innenministerium, 22 auf Brandenburg. Opferorganisationen zählen für Brandenburg dagegen 29 Opfer und bundesweit sogar fast doppelt so viele Personen, die aus rechten Motiven wie Rassismus oder Sozialdarwinismus getötet wurden.

Was ist Sozialdarwinismus?

Der Begriff Sozialdarwinismus leitet sich her von der Evolutionstheorie Charles Darwins. Dessen Theorie fand in zugespitzter Form Eingang in die nationalsozialistische Rassenlehre, um Menschengruppen als nichts lebenswert klassifizieren zu können.
Sozialdarwinismus beschreibt daher eine menschenverachtende Perspektive auf gesellschaftliche Randgruppen, gesellschaftlich schlechter gestellte Personen oder finanziell arme Menschen, spricht diesen das Recht auf Leben ab und lässt dabei soziale Ungleichheiten als naturgegeben gerechtfertigt erscheinen.

Stiftung zählt in Brandenburg mehr Todesopfer

Die nach einem 1990 in Eberswalde Ermordeten benannte Amadeu Antonio Stiftung erfasst auf ihrer Internetseite aktuell insgesamt 218 Todesopfer rechter Gewalt – 33 davon allein in Brandenburg. Einige davon sind jedoch nur als Verdachtsfälle gelistet.
Auch ein weiterer Punkt in der Statistik mit Bezug zu Brandenburg springt sofort ins Auge. Denn: Hier wurde am 7. Oktober 1990 mit Andrzej Frątczak in der Lübbenauer Neustadt der erste Mensch nach der Wiedervereinigung aus rechten Motiven getötet.
Mehrere Skinheads prügelten nachts in einer Gaststätte auf polnische Braunkohlearbeiter ein. Frątczak wurde am folgenden Morgen unweit des Lokals erstochen aufgefunden. Vor Ort erinnert heute nichts an das erste Todesopfer rechter Gewalt nach der Wiedervereinigung.
Auch der jüngste Fall rechter tödlicher Gewalt in Deutschland ist mit dem Vierfachmord im Königs Wusterhausener Ortsteil Senzig in Brandenburg geschehen. Ein radikaler Impfgegner erschoss im Dezember 2021 seine Frau und die gemeinsamen drei Kinder.

Todesopfer in Brandenburg nach 25 Jahren anerkannt

„Als tatbeeinflussend und -auslösend konnten, neben der Ablehnung der Maßnahmen der Bekämpfung der Pandemie, weitere Motive wie Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Antisemitismus und die Ablehnung des Staates sowie des Gesundheitswesens ermittelt werden“, so eine Sprecherin des brandenburgischen Innenministeriums zur Tat in Königs Wusterhausen.
Daher werde die Tat als politisch motivierte Kriminalität (PMK) rechts eingeordnet. In dieses 2001 eingeführte Erfassungssystem fließen Taten ein, wenn Anhaltspunkte vorliegen, dass eine rechte Ideologie ursächlich für die Tat war. Das erläutert das Bundeskriminalamt auf seiner Website. Und diese Einordnung in diese Statistik erklärt auch die abweichende Zählweise von Staat (114 Todesopfer) und Opferverbänden (218 Todesopfer).

Das sind die anerkannten und nicht anerkannten Todesopfer rechter Gewalt in Brandenburg

Kritiker aus der Zivilgesellschaft bemängeln unter anderem, dass diese PMK-Kriterien zu eng gefasst sind und Behörden Taten nur als politisch werten, wenn das rechte Motiv tatauslösend ist, aber nicht, wenn es tateskalierend ist. Dabei seien es oftmals „Motivbündel“, die zu den Taten führen, so Sarah Haupenthal vom Opferfonds Cura. „Beimotive werden oft kaum berücksichtigt.“

Brandenburg überprüft Todesopfer rechter Gewalt

So werden manche Taten, bei denen Verdachtsmomente rechtsradikaler Motive bestehen, lange nicht entsprechend eingeordnet. So auch der Tod Frątczaks in der Spreewaldstadt Lübbenau. Dieser war bis 2015 nicht als Todesopfer rechter Gewalt nach der PMK-Statistik kategorisiert.
Dass es nach dieser langen Zeit dazu gekommen ist, hängt unter anderem mit dem Druck zusammen, den Initiativen, wie der Verein Opferperspektive, auf die Landesregierung ausübten. „Wir haben bereits lange eine unabhängige Studie gefordert“, sagt Judith Porath, Geschäftsführerin des Vereins Opferperspektive.
„Aus dem ersten Bundestagsuntersuchungsausschuss zum NSU gab es die Forderung, alle Altfälle zu überprüfen“, so Porath. In Brandenburg folgte daraufhin eine interne Untersuchung der Behörden, die aber zu keinen neuen Erkenntnissen führte. Erst eine im Anschluss durchgesetzte externe wissenschaftliche Analyse erfüllte den Zweck einer eingehenden Untersuchung.
Ziel der Studie (siehe PDF unten), die vom Moses Mendelssohn Zentrum in Potsdam wissenschaftlich durchgeführt wurde, war es, alte Fälle zu untersuchen. Es sollte geklärt werden, inwiefern es unter diesen noch Taten gibt, die bisher nicht richtig eingeordnet werden. Im Beirat der Studie saßen dabei auch Initiativen wie der Verein Opferperspektive.

Wissenschaftler analysieren Fälle tödlicher rechter Gewalt

„Brandenburg war das erste Bundesland, das den Mut hatte, das zu machen“, sagt die Opferperspektive-Geschäftsführerin. Sonst habe bislang nur Berlin eine solche Studie umgesetzt. „In Brandenburg ist die Situation dadurch inzwischen vergleichsweise gut ausgeleuchtet.“
Insgesamt wurden in der Studie 24 Altfälle durch die Wissenschaftler überprüft. Neun dieser Fälle wurden mit dem Abschlussbericht im Juni 2015 dem Innenministerium zur Anerkennung vorgeschlagen, was damals einer Verdopplung der offiziellen Zahl der Todesopfer rechter Gewalt in Brandenburg entsprach. „In Brandenburg wurde da insgesamt auch mehr aufgearbeitet als anderswo“, so Haupenthal vom Opferfonds Cura. Das sei mit eine Erklärung, warum die Zahlen in Brandenburg so hoch seien. Opferperspektive-Geschäftsführerin Porath sieht das ähnlich.
Am 7. Oktober 1990 wird Andrzej Fratczak von Rechten vor der Gaststätte "Turbine" in der Lübbenauer Neustadt attackiert und stirbt. Vor Ort erinnert heute nichts an das erste offizielle Todesopfer rechter Gewalt nach der Wiedervereinigung.
Am 7. Oktober 1990 wird Andrzej Fratczak von Rechten vor der Gaststätte "Turbine" in der Lübbenauer Neustadt attackiert und stirbt. Vor Ort erinnert heute nichts an das erste offizielle Todesopfer rechter Gewalt nach der Wiedervereinigung.
© Foto: Lukas Märkle
Doch auch neben der Anerkennung von Todesopfern rechter Gewalt bleibt ein weiteres Feld aus ihrer Sicht offen: „Ein Thema ist die Anerkennung, ein weiteres das Gedenken an die Opfer – wessen Aufgabe ist das?“ Denn nur in einzelnen Orten, wie beispielsweise Eberswalde, erinnern lokale Initiativen an die Opfer. In den meisten Städten gibt es nicht einmal eine Hinweistafel, die an das Leben der Opfer erinnert.
Dieser Beitrag ist Teil der Serie Rechtsextremismus in Brandenburg von LR und MOZ.

Todesopfer rechter Gewalt in Sachsen

Auch im benachbarten Freistaat Sachsen finden sich seit 1990 Todesopfer rechter Gewalt. Folgende entfallen auf den sächsischen Teil der Lausitz: 
● Mike Zerna (1992 in Hoyerswerda – staatlich anerkannt)
● Waltraud Scheffler (1992 in Geierswalde – staatlich anerkannt)
● Bernd Schmidt (2000 in Weißwasser – staatlich nicht anerkannt)
Nach Angaben des sächsischen Innenministeriums wurden im Zeitraum von 1990 bis 2020 insgesamt zwölf Todesopfer rechter Gewalt in Sachsen registriert. Die Amadeu Antonio Stiftung listet dagegen insgesamt 19 Fälle auf, bei denen sich, aus Sicht der Stiftung, ein rechtes Tatmotiv ergibt.