Tamina Kutscher ist Deutsche und in einer Kleinstadt in Bayern aufgewachsen. Nach der Schule studierte sie Slawistik, zog ins russische Kasan, und hörte immer wieder, wie mutig sie sei, so einfach in dieses Land zu gehen! "Was für ein Land?" fragte Kutscher dann belustigt, weil sie schon wusste, was dann folgte: Die Leute erzählten etwas von Kommunisten und Geheimdiensten – und natürlich von Putin, der eine Gefahr für Europa sei.
Typische Russland-Klischees
Deswegen hat die 42-Jährige nun ein Medium mit entwickelt, das sich mit dem deutschen Russlandbild beschäftigt. Besser gesagt: mit seiner Korrektur. "dekóder" ist eine besondere Art von Informationskanal, ein Hybrid aus Polit-Magazin und Wissenschaftsjournal, aus Journalismus und Geisteswissenschaft. Eine Website, die debattenprägende Artikel aus russischen Medien zu einem Online-Journal zusammenstellt und ins Deutsche übersetzt. Eine Redaktion im klassischen Sinne gibt es nicht, sondern ein sechsköpfiges Gesellschafter-Team. Das wählt die Texte aus, die ins Deutsche übersetzt werden. Natürlich stammen diese Texte nicht aus staatlich kontrollierten, sondern aus unabhängigen Medien. Medien wie colta.ru, die in Deutschland weitgehend unbekannt sind. 2016 erhielt das Team dafür den Grimme Online Award. Jetzt ist "dekóder" auch als Buch bei Matthes & Seitz erschienen. Nach der ersten Lesung schrieb ein Fan: "Hier der Kommentar meines Mannes, den ich genötigt habe, das Buch zu lesen: ,Das hat mir jetzt ein Studium in Osteuropäischer Geschichte erspart.’" Natürlich sind solche Sätze in ihrer Übertreibung auch ironisch-geschicktes Marketing. Aber wer "dekóder" regelmäßig liest, erfährt Dinge, die er so in keiner deutschen Zeitung liest. Denn in den Texten gibt es so genannte Gnosen, die als Hyperlinks einen Ausdruck erklären, Hintergrund zu einem Ereignis oder einer Person liefern. Erklärt wird beispielsweise, mit wem diese Person politisch verbunden ist und von wem sie Geld bekommt.
In den Gnosen erscheinen auch Aufsätze von zeitgenössischen Philosophen – oder Texte aus dem Regierungslager, die neben die aus den unabhängigen Medien gestellt werden. Und das sowohl auf der Website als auch im Buch, das die Hyperlinks graphisch wiedergibt. So kann sich der Leser selbst eine Meinung bilden, wie er politische Aussagen einordnen soll. Und die "dekóder"-Redaktion trägt zur Entkräftung des Verdachts bei, dass in Russland vor allem Fake News produziert würden.
Die Redaktion, die aus an Journalistenschulen und großen Zeitungen ausgebildeten und Russland-erfahrenen Journalisten besteht, wählt die Artikel gemeinsam aus. Von Hamburg aus recherchieren die fünf Redakteure, welche neuen Medien in Russland gerade wieder entstehen – vor allem im Netz. Sie ordnen diese ein, setzen Themenschwerpunkte, lassen die Texte übersetzen, schreiben Gnosen.
Ein Gnosen-Text kann leicht mehrere Buchseiten bedecken – oder den ganzen Bildschirm. "Unsere eigentliche Arbeit ist die Recherche," sagt Tamina Kutscher. "Wir kennen die russische Medienlandschaft sehr gut und wissen, wer wo welche Debatten führt." Über jedem Text steht, aus welchem Medium er stammt und wem dieses gehört.
Die Idee, auf diese Weise das Russland-Bild gerade zu rücken, hatte der Philosoph Martin Krohs. In den "wilden Neunzigern" zog er nach Russland. Er blieb zehn Jahre, gründete in Moskau eine internationale Buchhandlung, schrieb als Journalist für die "NZZ" und die russische "Vokrug Sveta" – und beobachtete entsetzt, wie sich das Russlandbild in den deutschen Medien veränderte. Eines Tages kam ihm die Idee, die – kritischen – Russen selbst zu Wort kommen zu lassen und ihre Texte für die deutschen Leser zu übersetzen.
Quellen werden offen gelegt
Er sprach Russland-Kenner wie Tamina Kutscher an und machte sie von Anfang an zu Teilhabern von "dekóder". Als die Website online war, sagten Stiftungen wie die Zeit-Stiftung dem Projekt Förderung zu.
Heute besteht die Redaktion aus sechs Festangestellten, Deutschen und Russen, die in einem Büro in Hamburg sitzen, weil sich in Hamburg eine gemeinnützige GmbH wesentlich schneller anmelden ließ als in Berlin. Da leben die meisten von ihnen, die nun zwischen den Städten hin und her pendeln.
Seit kurzem arbeitet ein zweites Redaktionsteam in Moskau, das den Russen die Deutschen erklären soll – und nach dem gleichen Prinzip funktioniert wie der deutschsprachige dekóder. Und in Hamburg treffen die ersten Mails von Deutschland-Zuwandern aus anderen Nationen ein: "Bitte entwickeln Sie auch einen ,dekóder’ für Italien."
"dekóder – Russland entschlüsseln": Matthes & Seitz, 335 S., 20 Euro
Unabhängige Medien in Russland
Das Internet hat die Medienszene in Russland schneller verändert als in Westeuropa. Das liegt zum einen daran, dass Zeitungen es angesichts der riesigen Distanzen und des wirtschaftlichen Niedergangs ländlicher Regionen schwer hatten. In den 1990er Jahren waren zwar zahlreiche Zeitungen und Zeitschriften gegründet worden. Aber die wurden vor allem in den Großstädten gelesen. Die auflagenstärksten gehörten zu Medienholdings, die wenig auf Wirtschaftlichkeit achteten, weil sie politische Ziele verfolgten. Das raubte den Medien insgesamt die Glaubwürdigkeit – den die neuen, teilweise provokant-kritischen Internetmagazine zurückeroberten. MH