Wie ist es, nach jahrelanger Arbeit als Filmjournalistin jetzt auf der anderen Seite, der Seite der Programmmacher, zu stehen, und sich womöglich auch Kritik aussetzen zu müssen?
Ich bin ja nicht direkt von der "taz" in diese Position gewechselt. Ich war mehrere Jahre am Goethe-Institut in Brüssel und damit schon quasi auf der anderen Seite. Außerdem hatte ich zuvor schon als Journalistin Filmprogramme kuratiert und für die Filmwoche in Duisburg im Auswahlkomitee gearbeitet. Deswegen ist das keine scharfe Zäsur, sondern ein Übergang. Ich freue mich darauf zu sehen, wie meine neue Arbeit rezipiert wird. Wenn man in die Öffentlichkeit tritt, setzt man sich einer Kritik aus. Das muss man aushalten.
Wie viele Filme hat das Komitee gesichtet, um die 35 Filme auszusuchen, die jetzt im Forum-Programm laufen?
Etwa 1800.
Im Berlinale-Presseheft zitieren Sie den Filmkritiker Georg Seeßlen, der von "teuflischen Limitationen" in Bezug auf das Filmeschauen gesprochen hat. Wie lösen Sie diese Problematik bei der Wahl der Filme auf?
Als Filmredakteurin bei der "taz" hatte ich bei Neustarts manchmal das Gefühl: "Das habe ich alles schon gesehen." Es gibt in vielen Filmen einfach Formeln, die eine gewisse Narration, Figurenkonstellationen oder eine – plakativ formuliert – heteronormative Langeweile beinhalten. Warum kann das nicht abwechslungsreicher sein, wenn es doch so einen Reichtum an Narrationen, an Ästhetiken, an Konstellationen gibt? Warum muss es immer um Menschen gehen, warum kann es nicht mal um Steine gehen? Warum kann man nicht andere Fantasien entwickeln?
Haben Sie im Forum-Programm schon neue Schwerpunkte gesetzt?
Es ist jetzt nicht so, dass wir nur noch Filme mit Steinen als Protagonisten zeigen. (lacht) Aber uns ist aufgefallen, dass viele der ausgewählten Filme darüber nachdenken, wie sich das Verhältnis Mensch-Umwelt ändert, was Anthropozän bedeutet, also das Erdzeitalter, in dem wir uns befinden und in dem die Eingriffe des Menschen die Erde unwiderruflich geprägt haben. Sie tun das nicht als Botschafts- oder Themenfilme, sondern das wird auch Teil der Ästhetik. Wir haben einen ganz tollen brasilianischen Spielfilm, "Luz nos trópicos" von Paula Gaitán, der sich sehr intensiv mit dem Amazonas-Gebiet auseinandersetzt und eine Gegenwarts- und Vergangenheitsebene miteinander verschränkt. Ein weiterer Film, "Frem" von Viera Čákanyová, erzeugt Bilder auf eine neue Art: Er ist größtenteils mit Drohnen über der Antarktis aufgenommen. Da verschiebt sich der Blick, und der Mensch spielt kaum noch eine Rolle.
Die Berlinale ist unter der künstlerischen Leitung von Carlo Chatrian cinephiler geworden und schert sich weniger um Stars. Dadurch habe ich den Eindruck, dass sich die Sektionen, nicht zuletzt mit der neuen "Encounters"-Sektion, ähnlicher werden. Wie sprechen sich die Sektions-Leiter unter einander ab?
Ich glaube, das ist etwas, was dem Forum nur gut tun kann, dass wir uns in dieser neuen Konstellation Gedanken darüber machen müssen, wie wir eine Unterscheidung herstellen zu Encounters und zum Panorama. Wir haben ziemlich viele essayistische Filme im Programm, ziemlich viele sogenannte Hybridfilme: Mischungen aus Dokumentar- und Spielfilmen. Außerdem hat das Forum ja eine Tradition als politischer Ort des Festivals. Das zeigt sich im Jubiläumsprogramm.
Woraus besteht das Jubiläumsprogramm?
Darin zeigen wir 21 Programme aus kurzen, mittellangen und langen Filmen des ersten Forum-Programms von 1971. 27 Filme insgesamt, dazu noch "O.K." von Michael Verhoeven, der 1970 im Wettbewerb lief. Da merkt man, wie radikal und politisiert das Ganze anfing. Das Forum genießt als unabhängige Sektion eine Sonderstellung beim Festival. Das war ja quasi 1971 eine Gegengründung, war auch als Gegenfestival konzipiert und wurde damals von den Freunden der Deutschen Kinemathek verantwortet und nicht von der Berlinale. Heute ist es das Arsenal – Institut für Film und Videokunst, das das Forum verantwortet. Trotzdem hatten wir jetzt einen sehr intensiven Austausch mit der Berlinale, den ich als sehr angenehm und bereichernd empfinde.
Was ist denn heute ein typischer Forum-Film, auch eingedenk der Tradition, die Sie eben angerissen haben?
2019 gab es für mich einen Film, der viele Qualitäten des ‚typischen’ Forum-Films vereinte. Das war Thomas Heises "Heimat ist ein Raum aus Zeit", in dem es Heise bravourös gelingt, am Beispiel seiner Familie durch das 20. Jahrhundert zu gehen, dabei extrem viel hervorzuholen und sehr kluge Darstellungsweisen zu finden. Daran kristallisiert sich einiges, was ich sehr schätze, eben auch ein sehr essayistisches Zugehen auf Kino. Dass man Suchbewegungen abbildet, dass man einen Raum schafft, in dem Leute denken können – und das unter anderem zu einem der schwierigsten Sujets, die man sich für das Kino vorstellen kann, nämlich dem Holocaust.
Ist es nicht auch bitter, wenn Filmemacher, die im Forum entdeckt wurden, später zum Wettbewerb oder nach Cannes gehen? Wollen Sie wieder Stammgäste an sich binden, die das Profil des Forums schärfen?
Ich neige nicht zu Bitterkeit. Ich finde das eher klasse, wenn man etwas herstellen kann, was Leuten dabei hilft, ihren Weg zu gehen. Wenn diese Leute irgendwann Filme machen, die auf eine bestimmte Art größer sind als die Filme, die normalerweise im Forum laufen, dann ist es toll, wenn sie woanders leuchten können. Natürlich habe ich es auch gern, wenn Filmemacher*innen, an deren Oeuvre mir sehr viel liegt, uns weiter begleiten.
Früher gab es beim Forum auch populärere Filme, die viel Spaß gemacht haben, wie die Bollywood-Filme oder Hongkong-Genrefilme wie "Infernal Affairs". Vergleichbares gab es in den letzten Jahren selten. Könnte das Forum nicht Gefahr laufen, ein Nischenprogramm zu betreiben?
Ich nehme diese Zeit im Februar als ganz großartig wahr, weil nämlich Leute in Filme gehen, in die sie normalerweise nicht reingehen würden. Aber ich glaube auch, dass Spaß total wichtig ist. Nur gibt es heute dieses Hongkong-Kino in der Form nicht mehr, und Bollywood läuft auf RTL 2. Aber gerade Filme, die in Richtung Genre gehen, haben wir in diesem Auswahlverfahren immer wieder intensiv geprüft. Wir sind noch nicht richtig fündig geworden. Aber wir haben Filme im Programm, die sehr viel Spaß machen, wie etwa "Twentieth Century", und das ist etwas, was uns am Herzen liegt.
Was sind Ihre frühesten Erinnerungen an das Forum? Und haben Sie einen Lieblingsfilm?
Eine frühe Erinnerung ist Anfang der neunziger Jahre "Warheads" von Romuald Karmakar. Ich war damals jung und sehr inspiriert von der Friedensbewegung der 80er Jahre, saß in dem Kino und dachte: "Ich kann doch jetzt nicht drei Stunden Fremdenlegionären zugucken, ohne dass es kommentiert und eingeordnet wird!" Doch dann habe ich mich darauf eingelassen, weil es mir eine Art Differenzerfahrung erlaubt hat. Auch sonst waren viele Filme, die im Forum gelaufen sind, bevor ich überhaupt anfing, systematisch ins Kino zu gehen, ganz wichtig für meine persönliche Filmbildung. Ein absoluter Meilenstein ist zum Beispiel Claude Lanzmanns "Shoah". Ich glaube, das ist ein Film, um den man nicht herumkommt, heute erst recht nicht.