Die eigene Geschichte
Mit dem Film begibt sich Ottinger in ihre eigene Vergangenheit: 1962 war Paris der Ort, wo man als junge Künstlerin, die noch nicht so richtig wusste, wohin die Lebensreise gehen sollte, erst Mal anfing. Zur Rekonstruktion der Atmosphäre, in der sie ihre künstlerische und intellektuelle Ausbildung genoss, hat Ottinger 500 Filme aus allen Genres gesichtet und versucht, Personen und Orte und auch Stimmungen wiederzufinden, die ihr damals wichtig waren.
Es entstanden zehn Kapitel, in denen es etwa um die deutsch-jüdische Emigrantenszene und den Algerienkrieg, um die berühmte Cinémathèque française und die französische Kolonialpolitik, um das Künstlerviertel Saint-Germain-de-Prés und die Pariser Nächte geht. Ergänzt um einige aktuelle Aufnahmen, ist ein flirrender Bilderbogen über eine versunkene Stadt entstanden, die gleichzeitig etwas melancholisch und äußerst lebendig wirkt.
Man begreift, wie an- und aufregend es für die junge Frau gewesen sein muss, mit dem Emigrantenzirkel um den Buchhändler Fritz Picard zu diskutieren oder im Atelier des Grafikers Johnny Friedlaender die Kunst der Radierung zu lernen – im Kreis seiner internationalen Schülerinnen und Schüler.
Die Welt, so kommentiert Ottinger diese Bilder, war auseinandergebrochen, und man habe sich damals sehr ernsthaft bemüht, wieder zusammenzufügen – mit den Mitteln der Kunst zum Beispiel.
Aber natürlich auch mit den Mitteln der Politik: Im Kapitel über Afrika konfrontiert sie etwa Bilder einer verfallenen Gedenkstätte für tote Kolonialsoldaten mit denen eines Friseursalons im Nordosten von Paris, wo afrikanische Friseurinnen mit äußerster Kunstfertigkeit Haare zu Skulpturen verflechten, verdrillen und aufstecken; das Ganze ergänzt sie mit Aufnahmen aus den ethnografischen Filmen von Jean Rouch. Und sie beschreibt, etwa mit Aufnahmen einer niedergeknüppelten Demonstration, wie der gerade beendete Algerienkrieg die Gemüter noch immer erhitzte.
"Paris Calligrammes" nimmt sein Publikum mit in den Louvre, wo die angehende Künstlerin Stunden und Tage verbrachte, manchmal nur, um sich in ein einziges Bild zu versenken, lange bevor die Touristenströme aus aller Welt den Louvre stürmten. Sie beschreibt, wie ihre eigenen Bilder und später auch Filme von diesen Meisterwerken beeinflusst wurden. Das Pariser Nachtleben jener Zeit ist präsent durch Aufnahmen aus Jazzkellern und Transvestitenbars und eine sorgfältig ausgewählte, bunte Mischung von Musikaufnahmen, die bei der Zuschauerin eigene Paris-Assoziationen wecken.
Ottingers Paris-Erinnerungen enden mit Archivmaterial aus dem Mai 1968 und der Zeit danach: gewalttätige Demonstrationen, Straßensperren, vor Wasserwerfern fliehende Menschen, die besetzte Universität. Der politische Umbruch, der auf die Revolte folgte, sagt Ottinger, war nötig, aber sie kehrte zurück; im aufgeheizten Klima der Proteste und Gegenproteste ging "ihr" Paris verloren. Für immer. Mit "Paris Calligrammes" entsteht es wieder, weit entfernt von jeglichen Paris-Klischees und für alle, die damals nicht dort waren.
"Paris Calligrammes": 23.2. 17 Uhr Thalia Potsdam, 24.2. 12.30 Uhr Cubix 6