„Hier kommt noch jede Menge Sand auf den Boden! Bei der Probe muss es erst mal ohne gehen“, sagt Margaux Marielle Tréhoüart zu ihren sechs internationalen Tänzerinnen und Tänzern. Es ist eine der ersten Proben, bei dem sie und ihr musikalischer Partner Haggai Cohen-Milo mit seinem Trio in Weißwasser aufeinandertreffen.
Der Boden der Halle wird zur Bühne, 170 Zuschauer-Stühle sollen für die drei Aufführungen ab 2. September ringsum Platz haben. Wenige Tage nach den ersten Proben dann die Nachricht: der Sand für die Halle ist. Es sind 12 Tonnen. Den Sand braucht man fürs Glas, das ebenso wie die Kohle die Region lange Zeit ernährt hat.

Die Telux-Hallen – das Pompeji der Lausitz

Bespielte Industriehallen gibt es in Deutschland Dutzende, aber die Telux-Halle ist etwas Besonderes. Sie markiert das Ende einer Ära, sie wirkt, als seien die Arbeiter eben erst nach Hause gegangen – halb offene Spinde, Kaffeetassen und Arbeitsschuhe – das Pompeji der Lausitz. Hier in den Telux-Hallen wurde vor 123 Jahren die Geschichte des Weißwasseraner Industrieglases begründet, das seit den 1920er-Jahren unter dem Namen Osram weltweit gehandelt wurde. Auch das Gebrauchsglas war weit gefragt und hat Meister hervorgebracht wie Wilhelm Wagenfeld und Friedrich Bundtzen.
Nach der Probe für das Tanzstück „Gletscher“:  Choreografin Margaux Marielle Tréhoüart und der Bassist und Komponist Haggai Cohen-Milo.
Nach der Probe für das Tanzstück „Gletscher“: Choreografin Margaux Marielle Tréhoüart und der Bassist und Komponist Haggai Cohen-Milo.
© Foto: Thomas Klatt
„Gletscher“ heißt das Musik-Tanz-Theater-Stück und wird am 2. September in der Telux-Halle seine Uraufführung haben. Margaux Marielle Tréhoüart ist eine junge, gefragte französische Choreografin; Haggai gilt als einer der profilierten Bassisten und Performance-Künstler Israels. Doch was heißt eigentlich „Gletscher“? Klingt es nicht nach großer Kälte und vergangenen Lausitzer Eiszeiten?
Der Gletscher soll hier eher für ein Bild stehen als ein Symbol sein für die Geschichte dieser Region. Aber bringen Gletscher nicht auch immer etwas mit? Und schiebt er nicht auch die Träume der Menschen an ein besseres Leben vor sich her? Was ist aus ihnen geworden, leben sie noch, fragt das Stück. Manchmal werden die Utopien auch überrollt, sie gehen verloren. Nur die Findlinge, letzte steinerne Zeugen, bleiben zurück.

27 Vorstellungen in zwei Wochen

„Gletscher“ ist nur eine von mehreren Uraufführungen des diesjährigen Lausitz-Festivals, das nach Programmheft 27 Vorstellungen verschiedener Sparten in einem Zeitraum von mehr als zwei Wochen bereithält. Ein roter Faden ist zunächst nicht erkennbar. Beim näheren Hinsehen wird jedoch ein wiederkehrendes Thema sichtbar. Die Frage nach der Freiheit des Einzelnen und nach seiner eigenen kleinen Verantwortung für diese Welt. Vieles ist religionshistorisch grundiert. Dabei geht es nicht vorrangig um Glaubensfragen, sondern darum, was die Menschen in 2000 Jahren dazugelernt haben. Moralischer Erkenntniszuwachs? Daran ist zu zweifeln. Glaube, Hoffnung, Zweifel, Verantwortung und Macht sind die Widersprüche, die alles zusammenhalten.
Bei der Festival-Eröffnung am 25. August in Cottbus im Hangar 1 auf dem Flugplatzgelände wird das deutlich. Zur Aufführung kommt Verdis „Quattro pezzi sacri“ (vier geistliche Stücke), dem der belgische Regisseur Luk Perceval eine Arbeit von Bernd Alois Zimmermann, Komponist zeitgenössischer Musik, gegenüberstellt. Weiterhin kombiniert Perceval dazu eine Passage aus Dostojewskis Werk „Die Brüder Karamasow“.
Im Hangar 1 wird das Lausitz Festival am 25.08.2023 mit einem Stück von Luk Perceval eröffnet.
Im Hangar 1 wird das Lausitz Festival am 25.08.2023 mit einem Stück von Luk Perceval eröffnet.
© Foto: Nikolai Schmidt
Shakespeares’ Lustspiel „Der Kaufmann von Venedig“ erfährt ebenfalls in den Telux-Hallen von Weißwasser seine Premiere. Regisseur Stefan Pucher inszeniert es als Kammerspiel und formt die bizarre Wette um ein Stück Menschenfleisch zu einem immersiven, das Publikum einbeziehenden, Abend.
Der im vergangenen Jahr verstorbene belgische Komponist Philippe Boesmans hat für die Kammeroper „Julie“ eine kleine Besetzung von etwa 20 Orchestermusikerinnen- und Musikern vorgesehen, die mit Instrumenten wie Harfe und Celesta an der Neuen Bühne Senftenberg einen ungewöhnlichen Sound entwerfen. Mit aktuellem Blick schlägt die Regisseurin Anna Bergmann einen Bogen vom späten 19. Jahrhundert ins Heute. Julie ist eine Frau, die in der Liebe keine Standesschranken kennt. Es musizieren die Symphoniker Hamburg.

Literarische Höhepunkte mit Schnitzler und Brigitte Reimann

Auch Arthur Schnitzler hat immer wieder klassische Frauenrollen in der Gesellschaft hinterfragt. Im Grünen Salon von Schloss Branitz ist Schnitzlers Monolog-Novelle „Fräulein Else“ zu hören – eine psychologische Fallstudie mit gesellschaftskritischem Akzent. Roomful of Teeth ist ein Grammy-prämiertes Vokalensemble, das im Cottbuser Weltspiegel musikalische Bögen von Klassik bis zu Pop spannt. Unter anderem kennt man die Musik aus der Netflix-Serie „Dark“.
Zu den literarischen Höhepunkten des Festivals gehört ohne Zweifel die Lesung des Briefwechsels der Schriftstellerinnen Christa Wolf und Brigitte Reimann in Görlitz. Beide Frauen verbindet der Glaube an eine gerechtere Gesellschaft, ungeachtet aller Dogmen und Zwänge. Es lesen Fanny Staffa, vielen Cottbusern in guter Erinnerung von ihrer Zeit am Staatstheater Cottbus und die Schauspielerin Christine Hoppe. Theaterpilger kennen sie als Lady Macduff in Christian Friedels gelobter „Macbeth“-Inszenierung in Dresden.
Cottbus hat seinen Ruf als ostdeutsche Heimstatt des modernen Jazz offenbar verloren. Die wenigen Besucher bei der weltweit bekannten Band Aka Moon im vergangenen Jahr im Weltspiegel scheinen das zu bestätigen. Alle drei diesjährigen Jazz-Konzerte – Michael Wollny mit Émile Parisienne (Klavier und Saxophon), Latin-Pianist Michel Camilo sowie der us-amerikanische Gitarrist Kurt Rosenwinkel gemeinsam mit der portugiesischen Big Band Orquestra Jazz de Matosinhos – finden im Elbe Elster Kreis statt.
Überhaupt: Wer das Lausitz-Festival als Ganzes begreift, muss relativ weit fahren. Von Zittau bis Bautzen über Weißwasser bis Cottbus und weiter. Wobei die Einbeziehung der nördlichen Lausitz in und um Neuzelle noch aussteht.
„Gletscher“: Uraufführung 2.9., weitere Aufführungen 3. und 5.9. Telux-Halle Weißwasser. Offene Probe bei freiem Eintritt am 28.8., um Anmeldung wird gebeten. Tickets und Infos: www.lausitz-festival.eu