Birkenau war Teil des Lagerkomplexes Auschwitz. Was dort geschah, fasst Wikipedia in einem nüchternen Satz zusammen: "die fabrikmäßigen Massentötungen mit Giftgas". Ebenso nüchtern beschreibt Ginette Kolinka ihre Monate an diesem Ort, an dem sie im März 1944 mit ihrem Vater, ihrem kleinen Bruder und ihrem Neffen eintraf. Ein Teenager aus einer Pariser Arbeiterfamilie, der ausschließlich in der Gegenwart lebte. Tagsüber arbeitete die damals 19-jährige als Verkäuferin auf dem Markt, in ihrer Freizeit zog sie mit ihrer Schwester durch Paris. Beinahe wäre sie an jenem Sonntag nicht nach Hause gekommen, an dem die SS gegen die Haustür hämmerte. Aber es gab Kalbsbraten.
Die Männer müssen die Hosen runterlassen, um zu zeigen, ob sie beschnitten sind – die erste in einer unendlichen Reihe von Beschämungen. Aber Ginette Kolinka bewertet nicht, was passiert, sie schreibt nicht über ihr Innenleben. Sie beschreibt nur, was ab diesem Moment passiert.
Es gibt diese Formel für Autoren: Je dramatischer ein Ereignis ist, desto nüchterner sollte die Sprache sein. Ginette Kolinka hatte nie vor, ein Buch zu schreiben. Sie sei doch nicht so lange zur Schule gegangen. Dann hörte sie von diesem Aufruf von Steven Spielberg, der Zeitzeugen für seinen Film "Schindlers Liste" suchte. Da erzählte sie zum ersten Mal ihre Geschichte – in diesem ungewöhnlichen Tonfall, der einerseits nüchtern, andererseits ungeheuer nah klingt. Eine Nüchternheit, die dem Leser Raum lässt, das Erzählte mit eigenen Gefühlen aufzuladen. Und so Auschwitz nicht nur intellektuell, sondern auch emotional zu begreifen.
Kolinka erzählt wie in einer Langzeit-Reportage, wie ihr nach der Ankunft die Kleidung abgenommen und irgendwas aus einem Kleiderhaufen zugeworfen wird – das vermutlich von einer Toten stammt. Aber sie beschreibt nur, wie dieser wollene Altfrauen-Zweiteiler bei der harten körperlichen Arbeit auf der nackten Haut reibt und riecht. Wie eine dünne Suppe ausgegeben wird und sie kein Gefäß hat, womit sie sie auffangen kann. Und wie ein buntes Sommerkleid, das sie von einer großbürgerlichen Mitgefangenen, der späteren französischen Gesundheitsministerin Simone Veil, geschenkt bekommt, sie an ein anderes Leben erinnert – und ihr Hoffnung gibt. "Die Zuversicht verlieren heißt den Tod willkommen heißen."
Diese Nüchternheit der Sprache aber zeigt auch, wie angesichts des Grauens ein Gewöhnungsprozess einsetzt. Nicht einmal der Tod erscheint noch als etwas Außergewöhnliches. Man muss das Grauen nicht mehr fürchten, weil es Alltagsrealität ist. "Unsere Arbeit besteht darin, die Steine auf die Trage zu schichten und zu transportieren. Es gibt keine Erläuterungen, keine Bedienungsanleitungen, man lernt oder stirbt."
Auf der einen Seite ist diese sprachliche Unmittelbarkeit schwer erträglich, auf der anderen vermittelt sie ein Gefühl von Festigkeit und Stärke. Kolinka schreibt über sich nicht als Opfer, hat es geschafft, diese Opferrolle nicht zur Identität werden zu lassen. Die Spielberg-Stiftung, die von ihrer ungewöhnlichen Erzählhaltung erfahren hatte, bat sie, französische Schulklassen durch Auschwitz zu führen. Das, sagt sie, habe ihrem Leben neuen Sinn gegeben. Denn der Gedanke, dass junge Leute, die heute das Lager besuchen, nun mehr sehen als Baracken und Stacheldraht, mache sie glücklich.  "Wenn sie allein, ohne Führer hier durchgehen … Wie wollen sie den Rauch sehen, das Geschrei, Gedrängel?" Ein Sinn, der in der Weitergabe ihrer Erfahrungen besteht – und im Austausch mit den Menschen, die so alt sind wie sie damals. Wenn sie heute, mit 94 Jahren, so sei, wie sie sei, dann, so schreibt Ginette Kolinka, "verdanke ich das diesen Reisen, den Gefühlen und den Schülern, die uns ersetzen werden, wenn wir einmal nicht mehr sind. Ihnen sei Dank."

Eine 94-jährige Neu-Autorin

Ginette Kolinka wurde mit ihrem Vater, Bruder und Cousin nach Auschwitz deportiert. Die Familie, die sich als "jüdische Atheisten" verstanden, stammte ursprünglich aus der Ukraine und aus Rumänien und lebte in Aubervilliers. Im Juli 1942 flohen sie in die unbesetzte Zone Frankreichs, wo sie denunziert wurden.

Nach dem Krieg heiratete Kolinka und betrieb mit ihrem Mann ein Strickwarengeschäft auf dem Markt von Aubervilliers. Als sie Anfang der 2000er-Jahre Witwe wurde, schloss sie sich einem Verein von ehemaligen Deportierten an. Seither berichtet sie französischen Schülern von ihren Erlebnissen während des Holocaust. mh