Damit ließen sich Millionen verdienen, denkt Professor Julius Marx. Milliarden, denken seine Sponsoren. In der Menschheitsgeschichte spielte vermutlich nie etwas eine so große Rolle, wie die Vergesslichkeit, die vorgetäuschte, mehr noch die echte. Amnesie ist ein Gesundbrunnen, und wer eine Pille hätte, mit dem sich unerwünschte Erinnerungen auslöschen lassen, dem könnte ein schönes Leben beschieden sein. Oder ein schönes Regieren. Eine kleine rote Pille, extrahiert aus einer Hexenrezeptur, das wäre ein Elixier der Zukunft. Nur ausprobieren muss es jemand, und darum geht es in Yvonne Zitzmanns erstem Roman „Tage des Vergessens“.
Inspiriert von deutscher Geschichte
Die Autorin siedelt ihre Fiktion nicht in einer zeit- und ortlosen Wirklichkeit an, sondern inmitten deutscher Geschichte und Gegenwart. Inspiriert von Berichten über die an DDR-Bürgern bis 1989 devisenbringend durchgeführten Studien westlicher Pharmakonzerne, entwickelt sie ein Szenario, das sie bis ins Groteske zu steigern versteht. Im Mittelpunkt steht der wissenschaftliche Assistent Martin Wechsler, dem die Notwendigkeit des Geldverdienens half, moralische Anfechtungen zu überwinden. Mit seinen Probanden hat er Tonbandprotokolle von ihren schlimmsten Erinnerungen aufgenommen. Nun verabreicht er ihnen sieben Tage lang das Präparat, das diese Erinnerung aus dem Gedächtnis löschen soll.
Roadtrip durch das Gedächtnis
Bei einem früheren KZ-Häftling ist es die Mütze, die er einem Kameraden stahl – und ihn damit zum Tode verurteilte. Ein treuer Bürger der DDR möchte die ganze Gesellschaftsordnung vergessen, für die er selber stand. Eine junge Frau will nicht mehr daran denken müssen, wie sie vergewaltigt wurde. Ein Flüchtling nicht mehr jede Nacht seine im Krieg ermordete Familie vor sich sehen. Die Schlagersängerin will ihre alten Lieder hinter sich lassen, mit denen sie Erfolge feierte. Einem Kind soll die Erinnerung an den tödlichen Unfall seiner Mutter genommen werden und einem Paar der Treuebruch des Ehemannes, der die Beziehung vergiftet hat.
Mitfühlend, dramatisch und nüchtern
Yvonne Zitzmann, 1976 geboren, rollt diese Lebensgeschichten aus. Mal mitfühlend, dramatisch, mal nüchtern, distanziert. Sie überschreitet spielerisch die Grenze des Befremdlichen und versucht innezuhalten vor den Grenzen der Karikatur, um ihre Figuren nicht der Lächerlichkeit und ihre Geschichte nicht der Unglaubwürdigkeit preiszugeben. Auch das merkwürdige Institut, sein kühler Chef und sein unheimlicher Hausmeister rücken nach uns nach ins Bild, versteckte Gräber von Opfern früherer Versuche und, einmal gesehen für die Ewigkeit, der Wolf.
Aber lässt sich das Gedächtnis tatsächlich fragmentieren? Was geschieht mit den Menschen dabei? Steht am Ende ein glücklicheres Leben? Martin Wechsler scheint sich diese Fragen nur aus der Distanz des Wissenschaftlers zu stellen, solange er die Kontrolle hat über das Experiment...
Schicksale die zu Tränen rühren
Yvonne Zitzmanns Roman will den Leser unterhalten. Er ist spannend durchkomponiert von der ersten bis zur letzten Seite. Er zeigt Schicksale, die zu Tränen rühren, er offenbart eine Poesie des Lebens, die Menschen auf ihren Wegen tragen kann, und wie nebenher webt die Autorin philosophische Fragen in ihr Manuskript ein, die weit über das Sujet hinausreichen und die ethischen Dimensionen der heutigen Gesellschaft vermessen. So arbeitet die brandenburgische Autorin nicht nur ein Stück Ost-West-Geschichte auf, sondern vor allem eine Gegenwart, die wie ihre Geschichte aus dem Ruder laufen könnte.
Tage des Vergessens
Roman, Yvonne Zitzmann, 281 Seiten, Hardcover, müry salzmann verlag Wien 2021, 24 Euro