Die Leiterinnen der Anderen Welt Bühne Strausberg, Melanie Seeland und Inés Burdow, haben die Antworten auf diese ganz persönlichen Fragen 75 Jahre nach Kriegsende gemeinsam mit ihrem österreichischen Schauspielkollegen Thomas Hupfer sehr eindringlich vermittelt: Die in Briefform während der Kriegsgefangenschaft in Italien geschriebenen Tagebucheinträge von Opa Erich Burdow voller Hoffnung und Zärtlichkeit. Die aufgewühlten und erschütternden Schilderungen von Gestapohaft und Zählappellen im Konzentrationslager, die Melanie Seeland nach den Tonbandprotokollen ihrer Urgroßmutter authentisch deklamierte, stammelte, schrie. Der am 18. November 1945 datierte Brief des von Thomas Hupfer zitierten Großvaters, verfasst im Internierungslager Hohenschönhausen. Er war ein früher und ranghoher NS-Funktionär, der den Nazistaat maßgeblich mit aufgebaut und seine Strukturen mit geschaffen hatte, bis er nach Kriegsausbruch Kritik an Entscheidungen übte, mit dem militärischen Widerstand sympathisierte. "Er war Täter, zweifellos, war er dann auch Widerständler und jetzt, im Lager, gar Opfer?", fragt Hupfer sich und das Publikum. Es gebe ein Foto von 1937, das die Familie mit sieben Kindern zeigt, sein Opa in Uniform mit der Hakenkreuzarmbinde, seine Großmutter mit dem Mutterkreuz, den Vater als Baby auf dem Arm: "Das Mutterkreuz soll sie später in die Nachtschrankschublade geworfen haben. Der Nachtschrank steht noch bei mir."
Die Theatermacher machen Theater ohne den Brechtschen V-Effekt: Keine Verfremdung, ganz direkt und unverstellt. Sie machen sich nackig, sie gehen ans Eingemachte, Persönliche. Es ist Opa Erich von Inés Burdow, es ist die Uroma von Melanie Seeland, die aus Kassel stammt. Und Thomas Hupfer spricht vom schwarz-weißen Foto des Großvaters im braunen Rahmen, das ein leichtes Lächeln zeigt. Und Inés Burdow sagt: "Er war im Krieg, hat er dann auch Menschen getötet, mein Opa Erich mit den lachenden Augen?"
Die gewaltige Raumbühne gemahnt mit einem verkohlten Nikolaushaus an den Krieg, der optisch und akustisch die Szenen unterbricht. Die drängenden Fragen lassen die Schauspieler im Alltag nicht los, sie erörtern sie beim Wäscheaufhängen und Möbelrücken, das Bühnenbild von Matthias Merkle und Malin Wernecke wirkt dreidimensional und zieht den Zuschauer ins Stück hinein. Was den Wiener Regisseur Paul Spittler nicht daran hindert, Thomas Hupfer auch mal auf dem Laufsteg zwischen die rustikalen Zuschauerbänke zu schicken.
Das Strausberger Theaterkonzept ist keine Bühne zum Zurücklehnen und Amüsieren. Die Schauspieler behalten ihre Fragen nicht für sich, sondern geben sie an das Publikum weiter: Damals hätten viele behauptet, nichts gewusst zu haben von Lagern, Folter, Hinrichtungen. "Was, wenn wir heute alles wüssten?", insistiert Thomas Hupfer, "es gibt Lager, Folter, Massenvergewaltigungen, Hinrichtungen. Es kommen Menschen zu uns, die erzählen uns davon!" Doch die Deutschen wollten sich ihren schönen fetten Geburtstagskuchen zu 75 Jahren Frieden nicht vermiesen lassen. "Was genau haben wir nicht gewusst?", fragt er eindringlich. Der anhaltende, begeisterte Premierenapplaus zeigt, dass die Botschaft angekommen ist.
Info:www.wasserwerk-theater.com; Vorstellungen: 28./29.08., 19./25.09.20