Welch ein Unterschied zum Parteitag vor zwei Jahren! Auch damals hielt die SPD ihren Parteitag im CityCube Berlin ab. Am Nikolaustag 2019 bewarb sich der damalige Juso-Vorsitzende Kevin Kühnert um den Vizevorsitz in der Partei. Mitten in seiner Rede hielt Kühnert eine rote Socke ins Publikum. „Diese Socke steht für den Versuch unserer politischen Gegner, uns kleinzumachen“, rief er mit Bezug auf die damalige Unions-Kampagne. „Das hat dazu geführt, dass wir zwei Mal linke Mehrheiten im deutschen Bundestag nicht genutzt haben.“ Am Ende rief der Mann, der maßgeblich dafür gesorgt hatte, dass 2019 Saskia Esken und Norbert-Walter Borjans Parteivorsitzende wurden und nicht Olaf Scholz und Klara Geywitz, dass man doch bitte „von dem Laden“, gemeint war die SPD, „noch etwas übriglassen“ solle.
Und nun sitzen wieder Genossinnen und Genossen im CityCube, einem Gebäude der Messe Berlin, und es ist ein ganz anderer Parteitag. Nicht, weil die meisten Delegierten gar nicht im Saal sind und sich via Internet beteiligen, sondern, weil die Sozialdemokraten in diesen Tagen mit vor Stolz extrem geschwellter Brust auftreten.
Bei seiner Bewerbungsrede für den Parteivorsitz erinnert Lars Klingbeil, bis zu diesem Tag Generalsekretär, an ein Zitat, das er schon früher verwendet hat. Es stammt von der Hamburger Band Kettcar und geht so: „Nur, weil man sich daran gewöhnt hat, ist es nicht normal.“ An Umfragewerte von 13 bis 15 Prozent wollte sich Klingbeil nicht gewöhnen. Aber er hat einige Geduld gebraucht, in den vier Jahren als Generalsekretär. Acht Vorsitzende hat er in dieser Zeit erlebt. „Wie oft bin ich abends nach Hause gegangen und habe gedacht, heute haben wir wieder alles richtiggemacht. Und dann kam am nächsten Tag die Umfrage.“ Die Partei sei „abgeschrieben, bemitleidet“ worden. „Wir standen mit dem Rücken zur Wand.“ Und nun ist die SPD stärkste Partei und stellt den Kanzler. Die Frage laute nun: „Wie geht es weiter. Ein Wahlsieg reicht mir nicht“, sagt Klingbeil. „Früher haben wir gefragt, was lernen wir aus unseren Fehlern. Jetzt fragen wir, was lernen wir aus unseren Erfolgen?“ Zum Beispiel, so der Redner, dass es gilt, einen Brückenschlag von erfolgreichen Startups zu den Menschen in traditionellen Industrien zu schaffen. Die Entfesselung des Landes, den die Union im Wahlkampf gefordert habe, beginne nun mit der Ampel-Koalition. Unter Führung der SPD. „Wir haben noch wahnsinnig viel vor. Ich bin fest davon überzeugt, wir stehen vor einem sozialdemokratischen Jahrzehnt.“
Saskia Esken dankt dem „lieben Lars“ für seine „mitreißende Rede“. Und auch sie schaut erst einmal zurück. „‘Nikolaus ist GroKo-Aus‘ haben die Juso 2019 gerufen“, sagt Esken. „Und hey, nach nur zwei Jahren haben wir geliefert.“ Die Parteichefin, die sich anschickt, ihre Zeit an der Parteispitze zu verlängern, hat offenbar das Bedürfnis, ein wenig nachzufeiern. „Wir sind Kanzler. Wir sind einfach nur stolz auf unsere alte Tante SPD.“ Und so geht es noch ein bisschen weiter. „Ich bin sicher, wir würden beseelt vor Glück einander in den Armen liegen, wenn Corona nicht wäre.“ Und: „Wir haben diese Bundestagswahl gewonnen, weil wir wussten, warum wir sie gewinnen wollten. Und für wen.“ Es gehe unter anderem um „die Kinder, die nicht die gleichen Chancen haben. Kinderarmut ist eine Schande.“ Manch einer denkt jetzt vielleicht an Hartz IV und Niedriglöhne, aber das gilt als überwunden. Nun werde der alte und neue Sozialminister Hubertus Heil für Abhilfe sorgen. Unter anderem dadurch, dass Heil den Mindestlohn auf 12 Euro anhebt. Die Potsdamerin Klara Geywitz wiederum werde als Bauministerin die Mieter schützen. „Du wirst dafür sorgen, dass 400 000 Wohnungen gebaut werden – anders gesagt, Du wirst Großes leisten.“ Und so geht Esken die Reihe der SPD-Ministerinnen und Minister durch und landet natürlich auch bei Gesundheitsminister Karl Lauterbach. „Es gibt in unserem Land eine Revolte gegen die Vernunft, einen Kampf gegen die Aufklärung.“ Aber eben auch Lauterbach, der sich dem entgegenstellt.
Saskia Esken dankt dem scheidenden Ko-Vorsitzenden Norbert-Walter Borjans („lieber Norbert, es war eine unglaubliche Zeit“) und weiß „mit Lars Klingbeil einen echten Feministen an meiner Seite.“ Der Satz kommt etwas überraschend. Der Beifall ist spärlich. „Das hat Dir wohl noch niemand gesagt“, legt Esken nach.
Das Wahlergebnis für Esken und Klingbeil ist fast schon bescheiden, gemessen an der gegenwärtigen sozialdemokratischen Euphorie und daran, dass es keine Gegenkandidaten gibt. Das trifft vor allem auf das Ergebnis von Esken zu. Sie bekommt 76,7 Prozent. Bei Lars Klingbeil sind es 86,3 Prozent. Gültig ist das Ergebnis übrigens erst nach einer noch zu vollziehenden Briefwahl.
Nach der Wahl der Stellvertreter (Klara Geywitz, 81%, Hubertus Heil 89%, Thomas Kutschaty 85%, Serpil Midyatil 86%, Anke Rehlinger 91% - Ergebnisse gerundet) war dann Kevin Kühnert an der Reihe. Genauer gesagt, seine Wahl zum Generalsekretär. In seiner Bewerbungsrede machte er klar, dass es in Zukunft engsten Austausch und gute Zusammenarbeit zwischen Kanzleramt, Regierung, Fraktion und Willy-Brandt-Haus geben soll. Kühnert will vor allem Programmarbeit vorantreiben, die über den Koalitionsvertrag hinausgeht. Beispiel Zuwanderung. „Was machen wir denn, wenn die Bundesagentur für Arbeit sagt, wir brauchen jedes Jahr 500 000 Arbeitskräfte“, fragt Kühnert. „Wir wissen doch alle, dass sich dahinter kulturelle und andere Fragen verbergen.“ Kühnert will das Thema Einwanderungsgesellschaft offensiv angehen. Und dem spekulativen Umgang mit Immobilien etwas entgegensetzen. „Auch auf dem Land.“ Auch was mit dem Recht auf Arbeit gemeint sei, müssten die Sozialdemokraten erklären. Er wird mit 77,8 Prozent der abgegebenen Stimmen gewählt, freut sich über das entgegengebrachte Vertrauen, geht direkt zu Olaf Scholz und stellt sich demonstrativ neben den Kanzler. Rote Socken hat er dieses Mal übrigens nicht dabei. „Ich habe mir sagen lassen, die hat damals jemand gefangen“, erzählt er. „Die liegen jetzt angeblich im Archiv der sozialen Demokratie in Bonn.“
Eigentlich sollte noch die schwedische Ministerpräsidentin Magdalena Andersson ein Grußwort halten, aber ein Mitglied ihres Teams wurde positiv auf Corona getestet und die Ministerpräsidentin musste zurückfliegen.
Olaf Scholz hält seine Rede. Er spricht unter anderem von dem sozialdemokratischen Aufschwung, „der nicht nur mit er Bundestagswahl in Deutschland“ zusammenhängt. Auch anderswo in Europa gebe es sozialdemokratische Regierungschefs. Scholz spricht dann über die „die eigentlichen Aufgaben“. Zwei große Themen sieht er. „Geht das alles gut aus für mich und meine Familie“, fragten sich viele angesichts der Globalisierung. Die Frage müsse beantwortet werden. Und so sei es auch, wenn es gelte den Klimawandel aufzuhalten. Und zweitens komme es darauf an, die Gesellschaft zusammenzuhalten. Scholz will den Menschen versprechen, dass es nicht nur Veränderungen gibt. „Es geht gut aus. Das ist die Botschaft, die wir aussenden wollen.“