Die Fans im trotz Corona vollbesetzten Stadion An der Alten Försterei feierten die Mannschaft als „Stadtmeister, Stadtmeister“. In der Tabelle der Fußball-Bundesliga steht der 1. FC Union Berlin so gut da wie noch nie. Platz fünf und 20 Punkte nach zwölf Spielen sind die beste Ausbeute in der Vereinsgeschichte. Und dennoch: Im Lager der Eisernen gilt der Klassenerhalt zumindest in der offiziellen Sprachregelung auch weiterhin als das Saisonziel mit höchster Prioritätsstufe.
„Ja, es sieht gut aus. Aber das ist eine Momentaufnahme. Wir tun gut daran, unsere Demut zu behalten“, sagte Trainer Urs Fischer nach dem 2:0 (2:0)-Sieg im Hauptstadtderby gegen Hertha BSC. Kapitän Christopher Trimmel sprach trotz der Stadtmeisterschaft ein Arroganz-Verbot aus: „Wir sind nicht arrogant, sondern bleiben bodenständig. Wir werden jetzt nicht von der absoluten Nummer 1 sprechen. Unser Ziel bleibt der Klassenerhalt. Danach können wir intern wieder neue Ziele formulieren.“
Dass so mancher Fan in Köpenick diese Ziele schon jetzt neu stecken möchte, hängt einerseits natürlich mit der Tabelle zusammen. Als Tabellenfünfter liegt Union Berlin derzeit auf einem Europa-League-Platz. Die Champions League, und damit die europäische Königsklasse, ist gerade einmal einen Zähler entfernt. Es liegt andererseits aber auch an der Selbstverständlichkeit, mit der die Eisernen mittlerweile in diesen Tabellenregionen mitmischen und mit der sie am Samstagabend auch den ungeliebten Stadtrivalen aus dem Westend kaum eine Chance ließen.

Hertha BSC kontert nur halbherzig

„Über 90 Minuten war das ein verdienter Sieg. Die Mannschaft hat sehr viel Leidenschaft gezeigt, war kompakt und sehr griffig. Wir haben nicht viel zugelassen“, lobte Trainer Urs Fischer. Einer der wenigen Kritikpunkte des Schweizers: „Es waren genug Möglichkeiten da, um den Sack früher zuzumachen.“ Anders ausgedrückt: Die Eisernen gingen am Ende noch recht gnädig mit Hertha BSC um. Soweit ist es also in Berlin gekommen.
Das fünfte Hauptstadt-Derby in der Bundesliga war schon nach der 1. Halbzeit entschieden. Hertha hatte zwar mehr Ballbesitz, aber genau das war vermutlich auch der Plan der Eisernen. Sie machten sich einen Riesenspaß daraus, den Gegner mit ihrem schnörkellosen Umkehrspiel über Max Kruse und Taiwo Awoniyi immer wieder auszukontern. Zumal dieses Umkehrspiel auch in die andere Richtung funktionierte. Während Hertha seine Konter eher halbherzig zu Ende spielte, schloss Union die sich zwischenzeitlich auftuenden Lücken in der eigenen Defensive immer wieder im Vollsprint durch gleich mehrere Spieler.
Trainer Pal Dardai ärgerte sich über die schwache Offensiv-Leistung von Hertha BSC: "Unsere Mannschaft war heute nicht so spritzig und dynamisch wie in den letzten Spielen."
Trainer Pal Dardai ärgerte sich über die schwache Offensiv-Leistung von Hertha BSC: „Unsere Mannschaft war heute nicht so spritzig und dynamisch wie in den letzten Spielen.“
© Foto: Andreas Gora/dpa

Union Berlin mit der besseren Taktik

Natürlich hatte Union Berlin am Samstagabend die bessere Taktik. Vor allem aber zeigten die Gastgeber mehr Leidenschaft als die Alte Dame. Kevin Prince-Boateng hielt es nach dem Schlusspfiff für angezeigt, sich im Namen der Mannschaft bei den Hertha-Fans zu entschuldigen. Nur ein einziges Mal schnupperten die Gäste an einer möglichen Wende: Aber das 1:2 in der Nachspielzeit der 1. Halbzeit wurde nach Videobeweis wegen einer Abseitsstellung aberkannt.
Trainer Pal Dardai wollte sich den Aufwärtstrend der vergangenen Wochen zwar nicht schlechtreden lassen, aber auch er hatte angesichts der harmlosen Offensive mehr Fragen als Antworten. „Unsere Mannschaft war heute nicht so spritzig und dynamisch wie in den letzten Spielen. Woran das lag, müssen wir analysieren“, konstatierte Dardai. Möglicherweise habe man zu viel trainiert? War es die ungewöhnlich kurze Anreise zu diesem Auswärtsspiel? Die ersten Erklärungsansätze des Coaches klangen ein wenig genervt. Hertha BSC ist als Tabellen-13. wieder in Richtung Tabellenkeller gerutscht.

Union Berlin  mit dem Rücken zur Wand

Union Berlin hat derweil ganz andere Probleme – nämlich Luxus-Probleme nach dem besten Saisonstart aller Zeiten. Um die Euphorie in Köpenick nicht überschäumen zu lassen, wies Trainer Urs Fischer vorsorglich noch einmal darauf hin, dass die aktuelle Erfolgsserie jede Menge Substanz kostet und die jüngste Länderspielpause genau zur richtigen Zeit kam. „Wir haben uns all das hart erarbeitet. Wir müssen viel aufwenden, um uns zu belohnen“, erklärte Fischer.
Zur allgemeinen Erdung dürfte auch das bevorstehende Auswärtsspiel in der Europa Conference League bei Maccabi Haifa am Donnerstag (18.45 Uhr) beitragen. Union Berlin ist Tabellenletzter in der Gruppe E und benötigt dringend einen Sieg in Israel, um am letzten Spieltag im Dezember zumindest noch eine theoretische Chance auf das Weiterkommen zu haben. Die Eisernen stehen also mit dem Rücken zu Wand. Es ist ein Gefühl, dass der „Stadtmeister“ in der Bundesliga schon lange nicht mehr kennt.
Trotz rasant steigender Infektionszahlen war das Stadion An der Alten Försterei mit 22 012 Zuschauern zum ersten Mal seit März 2020 wieder komplett ausverkauft. Diese Vollauslastung hatten schon im Vorfeld für Kritik gesorgt.
Trotz rasant steigender Infektionszahlen war das Stadion An der Alten Försterei mit 22 012 Zuschauern zum ersten Mal seit März 2020 wieder komplett ausverkauft. Diese Vollauslastung hatten schon im Vorfeld für Kritik gesorgt.
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