Mit Oberst Oleg Penkovsky versuchte Anfang der 1960-er Jahre ein Mitarbeiter aus dem Dunstkreis von Chruschtschow, dem Westen Informationen zur atomaren Aufrüstung der Sowjetunion zukommen zu lassen. MI6 und CIA brauchten nun jemanden, der Kontakt zum abtrünnigen Geheimdienstmitarbeiter aufnehmen konnte, ohne, dass es verdächtigt wurde. Die Wahl fiel auf Greville Wynne, einen britischen Handlungsreisenden in Sachen technischer Produkte.

Raketen in USA-Reichweite

Der war unauffällig, da Penkovsky als Berater des Staatskomitees für die Koordinierung wissenschaftlich-technischer Arbeiten auch für die Beschaffung von West-Technologie zuständig war. Wynne wurde seitens der Sowjets so vor allem als Quelle gesehen. In Wirklichkeit nutzte der seine vielen Besuche in Moskau, um Material des Obersten - Skizzen und vor allem Fotos von geheimen Anlagen für Atom-Raketentechnik - nach London zu schmuggeln. Darunter auch deutliche Hinweise darauf, dass die UdSSR beabsichtigen, auf Kuba, also in Reichweite der USA, Mittelstrecken-Raketen zu stationieren. Dies war schließlich der Auslöser für gezielte Aufklärungsflüge der Amerikaner, an deren Ende das stand, was als Kuba-Krise in die Weltgeschichte einging.
Wynne und Penkowski sind also direkter Bestandteil derselben. Und darunter wollte es Dominic Cooke auch nicht machen. Sein historischer Polit-Thriller schaut hinter die Kulissen dieses bedeutenden Stücks Spionage. Das ist spannend gemacht und nachvollziehbar, erzählt aber tatsächlich nur die halbe Wahrheit. Welche die ganze ist, darüber streiten tatsächlich noch die Fachleute. Fakt scheint zu sein, dass der Brite mitnichten das unbeschriebene Blatt in Sachen Aufklärung gewesen ist, als dass er dargestellt wird. Benedict Cumberbatch spielt diesen Normalo, der so unnormale Dinge tut, mit inniger Überzeugung. Das ist toll anzuschauen. Doch in Wirklichkeit soll der alkoholliebende Handelsvertreter bereits im II. Weltkrieg für den Geheimdienst gearbeitet haben.

Realität spannender als Film

Cooke lässt ihn im MI6/CIA-Auftrag erstmals nach Moskau fliegen. Tatsächlich jedoch wählte man den Engländer, weil der sich dort regelmäßig aufhielt. Und hier holpert es auch in Sachen Filmlogik, warum man ausgerechnet auf den schlacksigen Typen gekommen ist. Diese künstlerische Freiheit zieht sich wie ein roter Faden durch den Streifen, der sehr anschaulich das Ost-West-Verhältnis damals sowie die Zustände in der Sowjetunion an den Zuschauer bringt. Und weil das all jene, die sich für Geschichte interessieren und wahrscheinlich erstmals von diesem Fall gehört haben, dazu animiert, sich mehr damit zu beschäftigen, wäre es für den Regisseur und sein Team vielleicht ratsamer gewesen, mehr bei den Fakten zu bleiben. Zumal die Realität gar spektakulärer war als die filmische Wirklichkeit. So wurde der Spion in Budapest von den Sowjets entführt und nicht schnöde auf einem Moskauer Flughafen verhaftet.

Sogar Thema für John le Carré

Immerhin, die  historische Geschichte ist so spannend, dass der Meister des Spionage-Romans, John le Carré, sich 1967 höchst selbst dazu im „Spiegel“ geäußert hat. Das es nochmal über 50 Jahre dauerte, bis daraus ein Film wurde, ist erstaunlich. Um so mehr sei allen an Polit-Thrillern, Geheimdienst-Storys oder historischen Stücken Interessierten das Werk von Dominic Cooke empfohlen. Egal, wie exakt nun die Darstellung der Vorkommnisse nun ausgefallen ist.
 

Der Spion

Genre: Thriller; FSK: 12 Jahre; Laufzeit: 112 Minuten; Verleih: Telepool; Regie: Dominic Cooke; Benedict Cumberbatch, Merab Ninidze, Rachel Brosnahan; GB/USA 2020