Sie sind auf der beständigen Suche nach den fehlenden Puzzleteilen. Héléne Amblard, Julien Le Groß und Alex Jordan sind auf der Suche nach Stimmen, Berichten, sie suchen Zeugen für Ereignisse, die sich vor über siebzig Jahren in Frankreich ereigneten. Diese Stimmen, sie werden leiser, die Quellen, die Zeugnisse all deren die dabei waren, sie versiegen. Amblard, Le Gros und Jordan arbeiten für die "Fédération Nationale des Déportes et Internés, Résistance et Patriot", eine Stiftung, die gleich nach dem 2. Weltkrieg, 1945, gegründet wurde. Die Stiftung widmet sich vorrangig der Aufklärung der Naziverbrechen in Frankreich. Im monatlich erscheinenden Magazin "Le Patriot Résistant" berichten Redakteur Julien Le Gros und sein Team, welche Teile sich bei der Suche wieder zusammenfügen ließen, bringen Menschen und deren Schicksale wieder in Erinnerung.
Einer der in Frankreich dabei war, ist der inzwischen 94-jährige Erhard Stenzel. Als neunzehnjähriger desertierte Stenzel an seinem Einsatzort in Rouen und lief zur Résistance über. (BRAWO berichtete). Er schloss sich dem Widerstand an, war dabei als Paris, Le Havre und Rouen befreit wurden. Stenzel ist der letzte, noch lebende, deutsche Résistance-Kämpfer. Ein Gespräch mit ihm, war den drei Journalisten die Anreise aus Paris wert. Ebenfalls dabei war der Politiker und Historiker Tobias Bank (DIE LINKE). Bank hat Expertenwissen zu Stenzels Biografie und er konnte den Gästen wertvolle Informationen zu Historischen Fakten liefern.
Namen, Orte, was geschah wann, jede Einzelheit, an die sich der Veteran noch erinnern kann, zählt. So mancher Ortsname ist Stenzel, der selbst kein französisch spricht, nicht mehr in Erinnerung. Er selbst war in einer deutschsprachigen Gruppe aktiv. "Man nannte uns die Deutschen", sagt er lachend. "Obwohl wir nur zwei Deutsche waren", fügt er erklärend hinzu. An den Namen des Kameraden kann er sich erinnern, sie überlebten gemeinsam in den Wäldern Frankreichs. Die Erinnerung an die Ortsnamen sind verblasst, dafür kann Stenzel die Zeiträume benennen und die Richtungen, in die sie marschierten. Er und die anderen Widerstandskämpfer sprengten eine Eisenbahnbrücke, als gerade ein Munitionszug darüber rollte. "Ein größeres Feuerwerk habe ich nie gesehen", sagt Stenzel. Wo genau das war, die Erinnerung fehlt. Er kann die Umgebung beschreiben, Zeiträume benennen und das hilft dann doch, sagt Alex Jordan. Etwa 20 solcher Anschläge sind den Journalisten bei ihrer Spurensuche bekannt geworden. "Das ist überschaubar. Wir finden bestimmt heraus, wo genau das war", ist Jordan zuversichtlich.
Wie grausig die Detailsuche manchmal werden kann, wird an einem anderen Ereignis sichtbar. Erhard Stenzel erzählt, wie ihm als junger Mann ein folgenschweres Missgeschick geschah. Stenzel lernte Schriftsetzer in einer Zeitungsdruckerei. Er war zuständig für die Weitergabe der Druckplatten für die Abendausgabe. Mit einer dieser Druckplatten in der Hand stürzte er, die Platte zerbrach, damit war ein Drucken der Abendausgabe nicht mehr möglich. Der Siebzehnjährige wurde nach Hause geschickt. Zwei Stunden später wurde er von der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) verhaftet. Man unterstellte ihm Absicht, Sabotage. Stenzel wurde in Haft genommen, Münchner Platz, Dresden. "Die haben mich immer wieder verdroschen", erzählt Stenzel. Was aber viel schlimmer für ihn war, man zwang ihn, auf einen Tisch stehend, sich die Hinrichtungen vor dem Zellenfenster anzusehen. Hinter ihm stand einer der Bewacher und hielt ihm den Lauf einer Pistole in die Kniekehlen, für den Fall, dass der junge Mann sich abwenden wollte. "Zwölf Hinrichtungen habe ich ansehen müssen, acht Männer und vier Frauen", sagt der Zeitzeuge. Amblard fragt nach: "Wurden diese Leute erschossen?" "Nein", sagt Stenzel weiter. "Sie wurden mit einer Axt geköpft." Die Journalistin nickt und erklärt, auch in Frankreich haben die Nazis, Résistance-Kämpfer, deren sie habhaft wurden, geköpft und nicht erschossen. Ein grausiges Detail und doch wichtig für ihre Arbeit.
Rund drei Stunden dauerte das Interview. Es hat sich gelohnt, sagen die französischen Gäste. Wieder haben sie ein paar Puzzleteile hinzugewonnen.

Gedenkstätte

Mehr als 1300 Menschen wurden in dem zwischen 1902 und 1907 errichteten Gebäude am Münchner Platz in Dresden hingerichtet. Während des Nationalsozialismus, der sowjetischen Besatzung und während der DDR-Diktatur diente es bis 1956 als Gericht, Gefängnis und zentrale Hinrichtungsstätte. Heute erinnert dort eine Gedenkstätte an die Opfer politischer Strafjustiz.