Es ist eine ungewöhnliche deutsch-französische Liebesgeschichte, die vor 77 Jahren im Ketziner Ortsteil Etzin begann, bis heute von Zufällen geprägte Spuren hinterlassen hat und von der vor Jahren nur der Name Ramette bekannt war, sonst absolut nichts.
Ein Name - sonst nichts
30 lange Jahre vergingen, ehe sich der Berliner Regisseur, Schauspieler und Sprecher Gregor Höppner endlich traute, die Tagebücher seiner Mutter zu lesen. „Darin tauchte mehrmals der Name Ramette auf, kein Vorname, kein Alter, keine Adresse, nichts weiter“, erzählte der 61-Jährige kürzlich in Etzin. Dorthin sei seine Mutter Luzie mit ihrer kleinen Tochter Angela, damals fast zwei Jahre alt, im Jahre 1943 evakuiert worden.
Der ohne jeden Zusammenhang genannte Name habe ihn neugierig gemacht. Sein langjähriger französischer Freund und Journalist aus Köln, Patrice Cuvier, meinte, dass das ein französischer Name sein könnte und versprach, bei der Recherche zu helfen.
Recherche im Internet und in Frankreich
Wenn Ramette als Franzose 1943 in Etzin gewesen wäre, dann nur als Kriegsgefangener und der Anfang sei tatsächlich einfach gewesen, meint Cuvier heute. Im Internet gäbe es eine Liste mit allen französischen Gefangenen in Deutschland, darunter 35 Ramette, mit Geburtstag, Einheit und dem Ort des Stammlagers. Aber in Etzin war kein Stammlager.
Während der Auswertung schriftlicher Antworten aus den französischen Departements auf Cuviers diesbezügliche Fragen rätselten beide immer wieder, warum Gregor Höppners Mutter ihn im Tagebuch mehrmals erwähnte. Könnte sie ihn getroffen haben?
Schließlich fand Höppner heraus, dass es tatsächlich ein Stammlager IIIA gab, das für die Verteilung der französischen Kriegsgefangenen in örtliche Gefangenenlager westlich von Berlin zuständig gewesen ist. Aber gab es in Etzin ein solches Gefangenenlager?
Zeitzeugin bestätigt Existenz der kriegsgefangenen Franzosen
Einen Schritt weiter half Zeitzeugin Gertrud Schädel vor Ort in Etzin. Sie versicherte, dass es französische Kriegsgefangene im Ort gab und diese in einem Saisonarbeiterhaus am Abzweig der Straße Zur Siedlung untergebracht waren. Langsam wuchs die Wahrscheinlichkeit, dass Ramette in Etzin gewesen sein könnte.
Nach ihrer Evakuierung aus Berlin war Höppners Mutter im ehemaligen Etziner Landgasthaus ziemlich am Ende der Straße in Richtung Nauen untergebracht. Es existiert heute nicht mehr, auch das unweit davon entfernte Saisonarbeiterhaus ist irgendwann abgerissen worden. Darin stimmen die Aufzeichnungen von Höppners Mutter und die Erinnerungen von Gertrud Schädel sowie die Luftaufnahmen von damals und heute überein. Aber war der von Luzie mehrfach erwähnte Ramette in den Jahren 1940-1945 in Etzin in Gefangenschaft und wie und wo lebte er vor und nach seiner Gefangenschaft?
Patrice Curvier stöberte ein Etziner Adressbuch von 1936 auf. Vier Familien wohnen noch heute in den gleichen Häusern wie damals. Leider habe ihm niemand von ihnen auf seiner Suche nach Ramette weiterhelfen können, bedauert er. Bis 2018 hatten die beiden nach mehreren Jahren Recherche noch immer keine heiße Spur, wollten aber auf keinen Fall aufgeben.
Suche im Zentralarchiv in Frankreich
Nach einer langen, aber ergebnislosen Recherche in Paris fuhren Höppner und Cuvier gemeinsam nach Caen in der Normandie und suchten im dortigen Zentralarchiv für ehemalige Kriegsgefangene. Aber wie in den Karten von zwei Millionen Kriegsgefangenen zwischen 1940 und 1945 jemanden zweifelsfrei finden, von dem nur der Familienname bekannt ist?
In Caen wurde ihnen eine Kiste mit rund 200 Karten mit dem Namen Ramette übergeben. „Wir haben alle Karteikarten dieser Kriegsgefangenen gemeinsam nach der Wahrscheinlichkeit von deren Gefangenschaft in Etzin durchgesehen“ sagte Cuvier. Nach einer ersten Recherche hätten sie etwa 30 dieser dreiteiligen Karten, jeweils in beige, orange und grün, in die engere Wahl genommen, fotokopiert und abends im Hotelzimmer auf dem Tisch verteilt erneut gründlich durchgesehen.
Rückseite der Karte lüftet Geheimnis
So lasen sie unter anderem auch die Karte eines gewissen Charles Jules Ramette, geboren am 27. Oktober 1909 in Paris, Dekorateur, Zeichner und Kunsttischler. Noch 1940 geriet der Obergefreite im „100. Infanterie-Regiment-Depot“ in Epinal in Gefangenschaft und wurde in das Stammlager IIIA in Luckenwalde überstellt. Eine heiße Spur?
Aus purem Zufall habe er diese Karte umgedreht und auf der Rückseite einen kleinen mit Handschrift eingetragenen Vermerk „letztes Lager Etzin“ entdeckt. Das seien Zufall und Glück gleichzeitig gewesen, erinnert sich Patrice Cuvier. „Ich war fassungslos, voller Emotionen und auch erleichtert“, erinnerte sich Gregor Höppner. Soldat Remette mit Vornamen Charles existierte und war in Etzin!
Nach und nach sei ihm klar geworden, was in Etzin geschehen war. „Es war in diesen schweren Zeiten die heimliche große Liebe zwischen meiner Mutter Luzie und dem Kriegsgefangenen Charles Ramette“, sagte Höppner dieser Tage noch immer voller Emotionen.
Wege trennten sich in Braunschweig
Befreit nach den fünf Jahren Gefangenenschaft in Etzin begab sich Charles Remette 1945 mit der jungen Frau und ihrer kleinen Tochter auf den noch immer gefährlichen Weg in Richtung Frankreich. Unterwegs pflückt er Flieder für Luzie. Diese zärtliche Geste hatte sie später in ihrem Tagebuch beschrieben. Es ist unbekannt warum, aber in Braunschweig trennten sich ihre Wege, er begibt sich nach Frankreich, sie bleibt in Deutschland.
Geschichte fügt sich weiter zusammen
Höppner und Cuvier wollen möglichst alles erfahren, recherchieren weiter und erleben, wie sich die Kette von glücklichen Zufällen immer weiter fortsetzte.
„Wir waren an seiner Pariser Adresse und fanden heraus, dass Charles Ramette später nach Südfrankreich ging, im Alter von 94 Jahren starb und mit seiner Frau auf dem alten Friedhof Montreuil begraben ist. Mitarbeiter im Rathaus sagten zu, ein Schreiben an den Rechteinhaber der Grabstätte weiterzuleiten und etwas später erlebte ich so etwas wie gleich zwei Wunder“, erzählte Gregor Höppner.
Zunächst habe Klaus Brosig, Etziner Pfarrer und jetzt im Ruhestand, auf dem Dachboden ein Dokument aus dieser Zeit gefunden. Es ist eine Liste von zivilen und militärischen Opfern, die während des Krieges auf dem kleinen Etziner Friedhof begraben wurden. Auf dieser Liste sind auch zwei Franzosen erwähnt.
Cousin aus Frankreich schickt alte Dokumente
Derweil hatten die Mitarbeiter des französischen Rathauses Wort gehalten und die Dokumente von Ramette an einen dort registrierten Verwandten weitergeleitet. Aus Südfrankreich meldete sich daraufhin ein Cousin von Charles Ramette und schickte an Gregor Höppner Kopien der in seinem Besitz befindlichen Dokumente von ihm, unter anderem ein Foto des Begräbnisses in Etzin, das Pfarrer Brosig erwähnte. Nun hatte Ramette auch ein Gesicht!
In den Unterlagen befanden sich sogar seine damals handgeschriebene und gehaltene Trauerrede sowie die Kopie eines Notizbuches von Ramette, insgesamt 130 Seiten, mit fester Schrift und mit Bleistift geschrieben. Darin hat Charles Ramette den Gefangenenalltag dokumentiert, beschreibt die Kälte, das Essen, das nicht immer gut gewesen wäre, seine Gedanken über die Trennung von der Familie. Er zeichnete auch ein noch heute vorhandenes detailliertes Bild des Raumes im Saisonarbeiterhaus, in dem er untergebracht war.
Weitere Infos zu französischen Kriegsgefangenen im kleinen Etzin gesucht
Gregor Höppner hofft, dass Zeitzeugen im Ort oder auch in den Nachbarorten noch weitere Fakten über die französischen Kriegsgefangenen in Etzin kennen oder über Dokumente verfügen, die seine Recherchen vervollständigen könnten. Er bittet sehr um entsprechende Informationen und ist auch bereit, Gespräche vor Ort zu führen. Telefon des Autors für entsprechende Hinweise: 033233/80560.