Dass geschossen wurde, das wusste auch Kerstin Schmädicke. Ihren ersten Versuch, die Grenze zu überschreiten, mussten die zwei nämlich abbrechen. "Da fiel damals ein Schuss, ich dachte erst, mein Freund wurde getroffen", berichtet sie. Die ungarische Grenzpatrouille, die verschärft worden war, nachdem seit Mai 1989 bereits etliche Kilometer Grenzzaun offiziell demontiert worden waren, nahm die verhinderten Flüchtlinge mit. "Wir wurden verhört und mussten eine Nacht in einer Gefängniszelle verbringen", erzählt die heute 48-Jährige. Danach sollten sie Ungarn verlassen. Doch stattdessen suchten sie sich einen neuen Weg. "Wir haben das allein durchgezogen, obwohl damals viele DDR-Bürger in Ungarn waren. Eine richtige Völkerwanderung war das. Wahnsinn – das ist jetzt 30 Jahre her."
Wie es überhaupt zur Flucht kam? Kerstin Schmädicke atmet tief durch. Plötzlich ist sie nicht mehr am Bodensee, wo sie seit Jahren lebt, sondern zurück im Eisenhüttenstädter Ortsteil Fürstenberg – bei ihren Eltern und der fünf Jahre jüngeren Schwester. Eine Zeitreise ins Kinderzimmer. "Wir hatten damals oft Besuch von unseren Verwandten aus dem Westen. Immer wenn die wieder weg waren, habe ich gedacht: ‚Wir kommen hier nie raus.’" All die Postkarten aus verschiedenen Teilen der Welt, die wollte sie nicht nur bekommen, sondern selbst schicken. "Ich wollte eigentlich schon immer weg. Mit etwa 14 hatte ich erstmals den Gedanken, dass ich türmen werde." Kerstin, der Teenager, ist eine kleine Rebellin. Ein bisschen aufsässig, nicht angepasst, mit Sturm und Drang in den Adern. Unorthodox, sagt sie selbst. Das Mädchen liebt Udo Lindenberg und macht "Hinterm Horizont" zur persönlichen Hymne. Doch kaum ist die Musik aus, holt die Realität sie wieder ein. Kerstin fühlt sich eingeengt. "Ich hatte auch oft Stubenarrest", erinnert sie sich. Und dann gibt es eben ihren Freund. "Der hatte lange Haare, war ein Rocker", sagt sie. Und er passt nicht ins Bild und ist vor allem dem Vater ein Dorn im Auge. Die Folge: Stress. Dass sie ihre Beziehung nicht leben durfte, sei das Tüpfelchen auf dem i gewesen.
Eine Woche nach ihrem 18. Geburtstag am 24. Juli sitzen beide im Zug nach Ungarn. "Vorher musste ich mir noch das notwendige Visum besorgen." Und dann geht das Abenteuer los. Kerstin, die gerade in der Ausbildung zur Krankenschwester steckt, nimmt ihr Sparbuch mit, auf dem etwa 4000 Mark gewesen seien, packt ein paar Sachen und das Foto ihres Hundes Bessi ein. Keinem hat sie von ihrem Fluchtplan erzählt, fast keinem. "Nur meine Tante in Hessen war eingeweiht." Ihre Eltern ruft sie erst von dort aus an. Etliche Wochen später, Wochen, in denen niemand in Eisenhüttenstadt wusste, wo Kerstin steckt.
Doch von Deutschkreutz aus geht es erst einmal nach Wien – mit anderen Geflüchteten im Bus. Von dort dann nach Hessen. Die DDR-Währung hatte sie in Ungarn in D-Mark eingetauscht. "Finanziell hatten wir keine Probleme." Doch auch bei der Tante währt die heile Welt nicht lange. Auch dort gibt es atmosphärische Störungen wegen ihrer Liebe. Also geht die Flucht ins Glück weiter. Im wahrsten Sinne des Wortes. "Wir sind Richtung Norden und dann in Glück-stadt, ein paar Kilometer nördlich von Hamburg, aus dem Zug gestiegen. Der Name klang so schön und vielversprechend", betont sie. Dort gelingt der Neuanfang. Als DDR-Flüchtlinge bekommen sie laut Kerstin Schmädicke eine Art Darlehen für den Übergang. "Das mussten wir dann zurückzahlen." Sie melden sich offiziell an und finden nach zwei Wochen in einer Jugendherberge eine Wohnung. Die 18-Jährige beginnt eine Ausbildung zur Zahnarzthelferin. So – als sollte es alles so sein. Den Mauerfall bekommt die junge Frau gar nicht live mit. "Ich kam morgens von der Schicht meines Praktikums und mein Freund hat mir davon erzählt." Dass die Grenzen mal aufgehen würden, daran hatte sie nie wirklich geglaubt. Aber das ermöglicht den ersten Besuch ihrer Eltern zum Weihnachtsfest im Jahr 1989 in Glückstadt. "Da war unsere Wohnung noch nicht mal tapeziert."
Ein Jahr darauf kommt der gemeinsame Sohn zur Welt, alles scheint perfekt, war es aber nicht. Nach fünf Jahren in der Stadt, die das Glück im Namen trägt, folgt die Trennung. "1995 bin ich dann zurück nach Frankfurt (Oder)", sagt Kerstin Schmädicke. Als Alleinerziehende ist sie auf die Hilfe ihrer Eltern angewiesen, ansonsten kann sie den Job als Zahnarzthelferin nicht ausüben. Zehn Jahre lebt sie mit ihrem Sohn an der Oder, doch das Gefühl der Enge kehrt zurück. Wieder ist sie abhängig von anderen, ihre Entscheidungen werden hinterfragt.
Die Suche nach dem Herzensort
Erneut geht sie in den Westen – diesmal nach Radolfzell am Bodensee. "Da lebe ich jetzt seit 15 Jahren", erzählt die Frau, die sich beruflich gerade neu erfindet, nachdem sie jahrelang vor allem in Verwaltungen tätig war. "In der Tourismusbranche selbstständig machen, das wäre etwas." Nach der Beziehung mit einem Einheimischen, die in die Brüche ging, weil Brandenburger eben so anders seien, "weil es einfach nicht gepasst hat", ist sie nun mit einem Mann aus Brandenburg an der Havel liiert. Ein gelernter DDR-Bürger also, wie sie. "Wir haben uns hier kennengelernt." Ihr Sohn hingegen, der jetzt 28 ist, wolle nächstes Jahr eine junge Frau aus Baden-Württemberg heiraten.
Doch, doch, soweit sei sie glücklich, sagt Kerstin Schmädicke. Das kommt allerdings etwas zögerlich. Weil die erträumte Eroberung der Welt sie nur nach Afrika und in verschiedene Länder Europas geführt hat? Weil es noch so viel Unentdecktes gibt? Nein, das ist es nicht. Sie scheint vielmehr noch immer oder wieder auf der Suche nach ihrem Herzensort. "Wir waren jetzt vier Jahre nacheinander im Sommer in Brandenburg und in Mecklenburg im Urlaub", schildert sie. "Und wir überlegen tatsächlich, ob wir zurückgehen." Die Mecklenburger Seenplatte würde beide reizen. "Die Mentalität der Menschen hier ist einfach so anders. Die sind viel verschlossener, nicht so offen wie wir." Und ihr Sohn? Der will mit seiner Frau nach der Heirat erst einmal eine Weltreise machen. Hinterm Horizont geht’s eben weiter!