Frau Kuszyk, begann Ihr Buchprojekt mit dem Aschenbecher, den Sie mal bei Ihrem Opa im Keller fanden?
Als Kind in meiner Heimstadt Legnica hat mich das schon sehr beschäftigt. In den 80ern war die Tatsache, dass wir im ehemals Deutschen wohnten, nichts, worüber gesprochen wurde. Aber ich sah überall diese Diskrepanz, Spuren der Vergangenheit, auf den Fassaden, auf alten Friedhöfen. Bei meinen Großeltern im Altbau, fand ich den Aschenbecher mit Gravur einer Liegnitzer Firma. Ich konnte mir keinen Reim machen, warum es in einer polnischen Stadt etwas gibt, was Deutschen gehörte.
Was sagte Ihr Großvater dazu?
Nur kurz, dass das von Deutschen war. Ich hab dann Theorien gesponnen. Dachte, den Aschenbecher hatten die Deutschen, also die Besatzer, vergessen oder er ist ihnen runtergefallen, weil sie schnell weg mussten als die polnischen Soldaten kamen. Erst mit 10 oder 11 erfuhr ich, dass alles mal deutsch war. Was für eine Entdeckung!
Aber das Thema war nicht erledigt?
Nein. Später ging ich nach Warschau, aber konnte dort nicht Fuß fassen. Das Materielle bedeutet mir viel – Architektur, Landschaft. Und es war ein großer Unterschied zwischen dem ehemals deutschen und Zentralpolen. Woher mein Unwohlsein in Warschau kam, begriff ich erst als ich mit 23 zum ersten Mal Berlin besuchte. Sofort habe ich mich heimisch gefühlt. Wie ähnlich alles zu Legnica oder Wrocław ist, die Häuser und die Bürgersteige aus Granitplatten! Das war die banale Erkenntnis: Ach ja, es ist wegen meiner ehemals deutschen Heimat.
Ist der Menschenschlag in Warschau auch ein anderer?
Im Osten hast du eher das Gefühl, dass jemand hinter der Gardine vorguckt, ob du auch in die Kirche gehst. Im Westen gibt es mehr eine "Leben und Leben lassen"-Mentalität. Die Menschen sind nach 1945 von überall hergekommen, Familien haben neu angefangen. Die Leute sind daher liberaler, auch in Bezug darauf, wen sie wählen.
Im Gegensatz zum konservativen ist das liberale Polen sehr deutschfreundlich. Manchmal scheint es, Deutschland wird glorifiziert.
Ich denke, die Beziehung zu Deutschland ist in Westpolen vor allem pragmatisch. Nach Deutschland fährt man, um zu arbeiten.
Ein Kapitel Ihres Buches heißt "Schätze und Geheimnisse".
Es gibt im Westen eine Faszination für deutsche Schätze. Meist sind es Männer über 30, die mit Metalldetektoren im Wald nach Dingen aus dem Zweiten Weltkrieg suchen. Bei Wałbrzych gibt es ein "Festival der Geheimnisse". Unglaublich, was man da für Typen trifft! Die wollen unbedingt was Deutsches unter der Erde finden, nicht zwingend Wertvolles. Mich hatte es auch gepackt. Meine Eltern haben Ende der 80er ein Haus gekauft. Im Garten haben wir alte Tassen und Apothekerfläschchen ausgegraben.  Es gab auch ein Notenheft und einen Öldruck. Diese Kleinigkeiten hatten für mich große Bedeutung.
Weil Deutsche dämonisiert waren?
Solche Dinge haben die Deutschen zu Menschen gemacht. Man sieht plötzlich: Die hatten einen Alltag. Der Historiker Gregor Thum meinte sogar, dass die Gegenstände in den Häusern heimlich auf die deutsch-polnische Versöhnung hingearbeitet hätten. Da ist viel Wahres dran. Deutsche Kultur war damals tabu, man kannte nur eindimensionale Gestalten aus Kriegsfilmen. Den ersten Deutschen traf ich mit 17 beim Schüleraustausch in Reutlingen. Ich hatte zuvor große Angst vor dem Thema Zweiter Weltkrieg. Natürlich war es dann ganz anders und sehr schön.
Sie haben viel recherchiert, mit vielen Menschen gesprochen. Warum kein wissenschaftliches Buch?
Die Forschung dreht sich oft um den Umgang mit symbolischen Orten, etwa Denkmälern. Ich wollte eine erzählerische Reportage schreiben, auch Persönliches beschreiben, wie dass ich als Kind auf deutschen Friedhöfen gespielt habe, denn das kennen alle, die da aufgewachsen sind. Und ich wollte die Belletristik einbeziehen. Autoren wie Olga Tokarczuk, Stefan Chwin oder Brygida Helbig haben das Thema in die polnische Literatur eingebracht.
Muss das Buch nicht auch auf Deutsch erscheinen?
Ich arbeite daran. In Deutschland herrscht das eindimensionale Bild vor: Die Polen kamen und haben alles kaputt gemacht. Was teilweise stimmt. Deswegen habe ich mich auf den Mikrokosmos der kleinen Dinge konzentriert. Viele Deutsche wollen mir nicht glauben, wie bedeutend zum Beispiel ein deutscher Anatomie-Atlas war. Aber in dieser schizophrenen Welt, in der einerseits die Deutschen die Bösen sind, andererseits das Haus voll interessanter Erinnerungsstücke an sie ist, wuchsen viele auf. Darüber musste ich einfach schreiben.

Autorin und Übersetzerin Karolina Kuszyk

Geboren 1977 in Legnica, studierte von 1996 bis 2003 Germanistik und Polonistik in Warschau. Kuszyk lebt in Berlin und Niederschlesien und ist freiberufliche Autorin, Übersetzerin und Lehrbeauftragte, u.a. an der Viadrina. Ins Polnische übersetzte sie u.a. Max Frisch, Ilse Aichinger, Bernhard Schlink. Ihr 427 Seiten starkes Buchdebüt "Poniemieckie" ("Ehemals deutsch") erschien 2019 im Verlag Czarne. Auch auf deutsch soll es erscheinen, wann ist noch unklar. nmw