Der Verlauf der Krise verdeutlicht, dass Grenzen auch im Schengen-Raum der EU nicht immer offen sind, sondern in Krisenzeiten sehr dynamisch ihre Durchlässigkeit verändern und mit verschiedenen Funktionen versehen werden können. Die deutsch-polnische Grenze hat das in der Vergangenheit gezeigt. Nach zahlreichen Grenzverschiebungen in der deutsch-polnischen Geschichte wurde die Oder-Neiße-Grenze 1950 erst durch das Görlitzer Abkommen von der DDR und 1990 auch von der BRD durch den deutsch-polnischen Grenzvertrag völkerrechtlich anerkannt. Dazwischen war die Grenze zwischen der DDR und der Volksrepublik Polen lediglich in den 1970er Jahren bis zum Aufkommen der Solidarność-Bewegung geöffnet. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und im Zuge der EU-Integration wurde die Grenze schließlich wieder schrittweise durch den Beitritt Polens zur EU (2004) und dem Schengener Abkommen (2007) sowie den vollen Zugang Polens zum EU-Binnenmarkt (2011) durchlässiger.
Von einer durchweg und für alle offenen Grenze konnte bereits vor Corona nicht gesprochen werden. Vielmehr waren Krisen oder auch größere transnationale Veranstaltungen Anlass, um Grenzpräsenz zu stärken. Am Beispiel Polens ist es gut nachzuvollziehen: Verstärkte stichprobenartige, mobile und temporäre Grenzkontrollen zu den Nachbarländern wurden etwa bei der Fußball-Europameisterschaft 2012, beim NATO-Gipfel und Papstbesuch 2016 und bei der UN-Klimakonferenz 2018 in Katowice eingeführt. Die Migrationskrise um 2015, in deren Kontext viele EU-Länder ihre Grenzen verstärkt kontrollierten, betraf die deutsch-polnische Grenze eher weniger.
Diese Tendenz zur Abschottung in Krisenzeiten lässt es nicht verwunderlich erscheinen, dass Polen, wie auch andere EU-Staaten, im März gleichsam "über Nacht" im Zuge der Ausbreitung des Virus seine Grenzen zu den Nachbarstaaten für Ausländer geschlossen hat. Dieser harte Einschnitt zur Eindämmung des Corona-Virus und zur Unterbrechung von potentiellen Übertragungsketten wurde erst ab dem 27. März zu einer quasi unüberwindbaren Grenze, als auch für polnische Pendler die Grenze insofern geschlossen wurde, als sie sich nach Grenzübertritt sofort in Polen in Quarantäne begeben mussten. Die tägliche Überquerung der Oder und damit der Grenze zur Arbeit, Ausbildung, Schule und Freunden und Familie war daher praktisch unterbunden.
Hoffnung auf Aufbruch
Nachdem der Schock der harten Grenzschließungen im März überwunden wurde, kamen die ersten zivilgesellschaftlichen und bürgerschaftlichen Initiativen der Doppelstadt zum Vorschein. Ein gut sichtbares Beispiel dafür ist das am 22. April an der Stadtbrücke angebrachte blau-grüne Banner mit den Schriftzügen "Im Herzen vereint und gemeinsam stark. Wir sehen uns bald wieder! Razem łatwiej przetrwać najtrudniejsze chwile. Do zobaczenia wkrótce!" Weitere Symbole der Solidarität wurden mit Schildern und Transparenten in den jeweiligen gegenüberliegenden Stadtzentren aufgestellt: "Tęsknie za wami" in Frankfurt (Oder) und "Bleibt gesund, Freunde" in Słubice. Mit den größeren Protesten am 24. April auf beiden Seiten der Grenze wurde eindrucksvoll gezeigt, dass die Zivilgesellschaft in der Doppelstadt trotz der Corona-Beschränkungen lebendig ist und es auch soziale und zwischenmenschliche Verflechtungen in der Doppelstadt gibt. Nach diesen zahlreichen Protesten wurden zum 4. Mai durch eine neue Anordnung des polnischen Gesundheitsministeriums die Staatsgrenze für Berufspendler, Schüler und Studierende wieder geöffnet und die Quarantäne-Pflicht für diese Personengruppen aufgehoben. Durch die feierliche Aufhebung der Grenzkontrollen vom 12. auf den 13. Juni und die viral gehende Umarmung der beiden Bürgermeister Mariusz Olejniczak und René Wilke wurde eine neue Aufbruchstimmung in den deutsch-polnischen Beziehungen vermittelt.
Der Verlauf der drei Monate der Grenztransformation von geschlossener und wieder geöffneter Grenze hat dreierlei offenbart: Erstens sind es bei weitem nicht nur die wirtschaftlichen Verflechtungen, sondern auch die sozialen und zwischenmenschlichen, die die deutsch-polnischen Beziehungen prägen. Zweitens hat es gezeigt, dass grenzüberschreitende Gebiete – Städte und Regionen – auch Orte sind, die eine eigene Logik des internationalen, täglichen Zusammenlebens annehmen können, fernab von den jeweiligen Hauptstädten. Diese Eigenlogik verflochtener Grenzräume setzte sich recht bald gegen epidemiologisch begründete Abschottungstendenzen durch. Drittens ist mit dem Aufbruch nach Krisen und Transformationen des Verhältnisses zwischen Deutschland und Polen (wie etwa nach der Oder-Flut) stets die Hoffnung verbunden nach einer vertieften grenzübergreifenden Zusammenarbeit, die die Zukunft der Grenze, ihrer Doppelstädte und Euroregionen nachhaltig, friedvoll und krisenresilient prägt.
Dr. des. Peter Ulrich ist kommissarischer wissenschaftlicher Koordinator "Grenzforschung" am Viadrina Center B/ORDERS IN MOTION
Prof. Dr. hab. Jarosław Jańczak ist Wissenschaftler an der Viadrina und Professor an der Fakultät Politikwissenschaft und Journalismus an der Adam-Mickiewicz-Universität in Poznań