Einen einzigen Grabstein findet sie an diesem Tag, der vom Fundament abgebrochen ist, dessen hebräische Inschrift aber nach oben zeigt und deshalb lesbar ist. Außerdem liegen drei Bruchstücke auf dem feuchten Waldboden. Trotz des dünnen Materials verbringt sie drei Stunden an diesem Ort: Sie säubert und vermisst den Grabstein, vergibt Nummern an die ehemaligen Grabstellen, fertigt einen Lageplan an, zeichnet im Plan ein, welche Nummer wohin gehört.

Schlechter Zustand der Friedhöfe

Anke Geißler-Grünberg geht in diesem Bereich auf, erzählt sie. Die Arbeit sei spannend und frustrierend zugleich. Neben des schlechten Zustands der meisten Friedhöfe ist auch das Akquirieren von Geldern ein Problem. Andererseits freut sie sich, an der frischen Luft zu arbeiten und das jüdische Erbe direkt vor der Haustür zu bewahren – obwohl ihr damals im Studium gesagt wurde, dafür müsse man ins Ausland gehen, hier gebe es nichts. Die Arbeit ist fächerübergreifend, mit Anteilen aus der Archäologie, Geografie, etwas Botanik, der Aufbereitung für die Datenbank: Sie schaut sich die Einfriedung etwa aus Robinien und Linden oder aus den Rudimenten einer Friedhofsmauer an, übersetzt hebräische Inschriften. Das geht aus dem Stegreif. Nur, wenn Buchstaben fehlen, muss sie im Homeoffice am Computer übersetzen. Am Material der Grabsteine, dem Schmuck, der Sprache und ob sie von christlichen Steinmetzen bearbeitet wurden, kann sie etwas über die Zeitgeschichte ablesen. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde kaum noch Hebräisch geschrieben, "je mehr man ins 20. Jahrhundert kommt, desto weniger wird es", erklärt sie.
Ein Projekt, das sie an der Universität Potsdam betreut hat, das aber momentan ruht, sind die "Jüdischen Friedhöfe in Brandenburg", eine Onlinedatenbank mit Fotos, Lageplänen, Belegungslisten und Informationen zu den Friedhöfen. Für die meisten gibt es die Möglichkeit, die Verstorbenen nach Name, Herkunftsort, Geschlecht, Geburts- und Sterbedatum, Steinmetz oder Inschrift zu suchen. Gut 20 der über 60 noch nachweisbaren Friedhöfe in Brandenburg sind so zusammengefasst, etwa Frankfurt/Słubice, Fürstenwalde, Trebbin, Wriezen. Nach diesem Muster könnten auch die jüdischen Friedhöfe östlich der Oder katalogisiert werden. Das Projekt steht aber am Anfang. "Die große Arbeit kommt erst noch", sagt sie. Die Inschriften müssen abgeschrieben, übersetzt und in die Datenbank eingepflegt werden.
Cybinka, wo die blaubeersuchenden Frauen die Überreste des Friedhofs nicht kannten, sowie Zasieki bei Forst in der Lausitz und Zielona Góra wollte Anke Geißler-Grünberg eigentlich schon im März besuchen – am Tag, nachdem die polnische Regierung die Grenzen für Ausländer schloss. Davor hatte sie 20 jüdische Friedhöfe jenseits der Oder schon kurz besucht, um sich einen Überblick zu verschaffen. "Ich war schockiert über den grundsätzlich schlechten Zustand", berichtet sie. Im Vergleich zu jüdischen Friedhöfen in Brandenburg seien die in Polen sehr ungepflegt. "Aber sie haben auch gar keinen Bezug dazu. Das ist nicht Teil ihrer Geschichte."
Allerdings hat das Landesmuseum in Miedzyrzecz viele Informationen zu Friedhöfen der Region gesammelt. Dort findet im September ein Workshop mit deutschen und polnischen Studierenden statt, das Landratsamts hat die Schirmherrschaft übernommen. "Wir sind geehrt und freuen uns sehr, dass das auch von polnischer Seite anerkannt wird", sagt Anke Geißler-Grünberg. Mittlerweile werden an einigen Orten auch Tafeln oder Gedenksteine aufgestellt. In Zielona Góra ist zwar der Friedhof beräumt, aber es gibt eine Trauerhalle, in die noch vorhandene Grabsteine gelegt wurden. In Zary im Süden fand sie lediglich zwei kleine Fundamentfragmente vor. "Die dokumentiere ich auch, obwohl es wenig befriedigend ist." Der Friedhof in Trzciel hinter Swiebodzin und Miedzyrzecz  hat hingegen noch 200 Grabsteine. Zwischen 300 und 400 sind es insgesamt auf den 30 zu untersuchenden Friedhöfen in Polen, schätzt sie.

Dokumentation einer verlorenen Kultur

Für Anke Geißler-Grünberg, die Jüdische Studien und Geschichte studiert hat, geht es darum, eine verlorene Kultur zu dokumentieren, Informationen für Nachfahren und Regionalforschung zugänglich zu machen. Synagogen seien oft nicht mehr vorhanden oder umgewidmet. "Meist sind die Friedhöfe die einzig sichtbaren Zeugnisse von Juden in der Gegend." Zwar arbeiten unter der Leitung von Magdalena Abraham-Diefenbach vom Lehrstuhl für Denkmalkunde weitere polnische und deutsche Kooperationspartner an dem von der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien geförderten Projekt. Auch Studierende haben in einem Viadrina-Seminar gerade erst Einführungstexte dazu verfasst. Auf den Friedhöfen ist Anke Geißler-Grünberg aber allein. Wenn ihr Lebensgefährte Zeit hat, begleitet er sie ab und an. Darüber ist sie vor allem bei Friedhöfen, die mitten im Wald liegen, dankbar.