Vor genau zwei Jahren wurde eine junge Frau aus Oranienburg getötet. Sie starb in einem alten SS-Bunker durch sieben Stiche. Der Fall erregte überregional Aufsehen – und wird jetzt neu aufgerollt. Der Bundesgerichtshof hob das am Landgericht Neuruppin gesprochene Urteil auf. Was damals passiert sein soll und wie es jetzt weitergeht.
Es ist der 15. Juli 2021, ein Sommertag, als das letzte Foto von Bianca S. entsteht. Aufgenommen von einer Überwachungskamera am Oranienburger Bahnhof. Die damals 26-Jährige kommt gegen Mittag von einem Bekannten in Borgsdorf, der ihr ein neues Tattoo gestochen hat. Für sie offenbar ein Symbol, mit dem sie einen neuen Lebensabschnitt einläuten will. Bis dahin schien ihr Tag normal zu sein: Der Oma, bei der sie lebt, Tschüss sagen, ihren fünfjährigen Sohn zur Kita bringen, die Uroma besuchen, Tattoo stechen lassen. Dann verschwindet sie spurlos.
Tot im ehemaligen SS-Bunker bei Oranienburg
Die Altenpflegehelferin verpasst ein Arbeitsmeeting, ihr Sohn wartet vergeblich in der Kita auf sie. Die Familie sucht nach ihr, die Polizei nimmt wenige Tage später die Ermittlungen auf. Doch Bianca S. ist längst tot. Am 19. Juli finden Lost-Places-Touristen durch Zufall ihre Leiche im ehemaligen SS-Bunker in Friedrichsthal. Ein Suizid wird schnell ausgeschlossen, ein Sexualdelikt ebenfalls. Bianca S. hat schwere Stichwunden am Körper.
Am 27. Juli wird Kurt L. verhaftet. Der Ex-Freund soll sie mit sieben wuchtig ausgeführten Stichen heimtückisch ermordet haben, so die Staatsanwaltschaft. Tatwerkzeug: ein Stechbeitel mit einseitig angeschliffener Klinge. Bianca S. und Kurt L. hatten eine schwierige, eine toxische On-Off-Beziehung. Es ging offenbar viel um Eifersucht, Kontrolle, Sex. Sie soll ihn dennoch „abgöttisch geliebt“ haben, sagt ihre Oma später im Prozess. Wenige Wochen vor der Tat hat sich Bianca S. von ihrem Freund getrennt. Über Kurt L. wiederum heißt es, er wollte sich von seiner dominanten Partnerin lösen. Über die Stunden im Bunker wird er im Prozess nicht direkt sprechen.
Am 22. Februar 2022 wird Kurt L. am Landgericht Neuruppin wegen Totschlags zu zwölf Jahren und sechs Monaten Freiheitsstrafe verurteilt. Das Landgericht sieht keinen heimtückischen Mord in dem schwerwiegenden Verbrechen. Es schließt eine Affekthandlung nicht aus. „Unter Weglassung aller Spekulationen, kann die Kammer nur die Tötung feststellen“, sagt der Vorsitzende Richter Udo Lechtermann. Kurt L. bleibt auch bei der Urteilsverkündung regungslos. Laut Lechtermann hinterlässt er eine erschreckende Leere.
Die Staatsanwaltschaft hatte die Höchststrafe, lebenslange Haft, also mindestens 15 Jahre, gefordert. Das Mordmerkmal der Heimtücke sei gegeben. Kurt L. hatte die Tatwaffe mit zur Verabredung genommen. Sieben wuchtige Stiche auf ein argloses und wehrloses Opfer sprächen für einen „zielgerichteten Willen“. Staatsanwalt und Nebenklage legen Revision gegen das Urteil ein. Sie streben eine Verurteilung wegen Mordes an. Der Bundesgerichtshof (BGH) hob das Urteil am 22. März 2023 auf. „Wegen einer rechtsfehlerhaften Beweiswürdigung“, heißt es.
Landgericht soll Indizien ignoriert haben
Zahlreiche „gewichtige Indizien“ seien vom Landgericht nicht berücksichtigt worden. Diese könnten aber dafür sprechen, dass Kurt L. „die arglose Geschädigte in den abgeschiedenen Wehrmachtsbunker gelockt hat, um sie dort unter Ausnutzung stark eingeschränkter Verteidigungsmöglichkeiten zu töten“. Der Fall wird jetzt neu aufgerollt, eine andere Strafkammer kümmert sich.
Wie Richter Johannes Elliesen als Pressesprecher des Landgerichts Neuruppin sagt, ist nun die 2. große Strafkammer zuständig. Dort kam es jüngst zu einem Wechsel, nachdem die Kammervorsitzende zum 1. Juli zur Richterin am Bundesgerichtshof ernannt wurde. „Unter ihrem neuen Vorsitzenden wird sich die Kammer in das Verfahren einarbeiten und sodann Termine anberaumen“, teilt Elliesen mit.
Kurt L. sitzt weiterhin in Untersuchungshaft. „Dabei wird die Kammer so gut wie möglich berücksichtigen, dass es sich bei dem Verfahren um eine Haftsache handelt, die deshalb grundsätzlich mit gesteigerter Dringlichkeit zu bearbeiten ist.“ Konkrete Termine gibt es nicht. „Ein Beginn der Hauptverhandlung ist allerdings noch für das Jahr 2023 geplant“, so Elliesen.
In der Hauptverhandlung muss der komplette Fall neu betrachtet werden. Das heißt auch: Eine vollständige Beweisaufnahme ist durchzuführen. „Wie diese konkret aussehen wird, kann noch nicht beantwortet werden“, sagt Johannes Elliesen. Erst mit der neuen Verhandlung wird sich entscheiden, ob Kurt L. vom Totschläger zum Mörder wird. Es bleibt abzuwarten, ob er dieses Mal sein Schweigen zur Tat am 15. Juli 2021 im Bunker bricht.