Obgleich es auf dem Straßenweg von dort bis zum Westhavelland etwa 900 Kilometer sind, vollzogen sich doch im Norden Frankreichs vor mehr als 850 Jahren Prozesse, die die märkische Geschichte stark beeinflussten. Allen voran waren es die später heilig gesprochenen Bernhard von Clairvaux und Norbert von Xanten, die unmittelbar Einfluss nahmen.
St. Denis bei Paris ist derweil mit einem Geistlichen namens Suger verbunden, der 1122 zum Abt des dortigen Klosters wurde. Er träumte von einer besonderen Kirche, deren Errichtung - auf den Fundamenten eines Vorgängerbaus - Ende der 1130er Jahre startete. Sie gilt heute als die Wiege der Gotik. Indes war das Havelland noch eine slawisch geprägte Gegend. Das sollte sich ändern.
Eine der herausragendsten Gestalten im Vorfeld der Christianisierung der ostelbischen Slawen ist Norbert von Xanten. Er war im Ursprung ein normaler Mann Gottes mit besten Kontakten in allerhöchste Kreise. Doch wandte er sich noch intensiver Gott zu, wurde zunächst Wanderprediger und 1121 zum Gründer des Ordens der Prämonstratenser. Benannt nach dem Ort in einem einsamen Wald, an dem Norbert den Stammsitz schuf - Premontré, etwa 100 Kilometer nordöstlich von St. Denis.
Südöstlich, knapp 150 Kilometer von St. Denis entfernt, hatte ein Mönch namens Bernhard im Auftrag seines Ordens der Zisterzienser ein Kloster gegründet. Das war schon 1115 gewesen. Bernhard von Clairvaux wurde in der Folge zu einem der einflussreichsten Männer Gottes. Für den Wendenkreuzzug, der, der slawischen Kultur östlich der Elbe ein Ende bereiten sollte, hatte dieser Zisterzienser 1147 leidenschaftlich gepredigt.
Die Operation war ein Parallelereignis des Zweiten Kreuzzugs ins Heilige Land, der sozusagen in der neuen Abteikirche von St. Denis seinen Ausgang nahm. Der französische König hatte dort das Kreuz genommen und war in den Krieg gegen die Sarazenen gezogen. Für ihn übernahm Abt Suger die Reichsregentschaft. Auch der deutsche König nahm an diesem Kreuzzug teil.
Kurios, dass der Wendenkreuzzug im weiten Bogen nördlich um das Havelland herum führte. Über Havelberg ging es in Richtung Vorpommern. Das hiesige Havelslawenreich mit seiner Machtzentrale auf der Brandenburg blieb verschont. Als mögliche Ursachen dafür kommen zahlreiche Aspekte in Frage. Vor allem der Einfluss jener Kreuzzugsteilnehmer, die sich längst als neue Herren an der Havel sahen. Allen voran der mächtige Albrecht der Bär aus dem Geschlecht der Askanier, der Markgraf von Brandenburg sein wollte, und der damalige Bischof von Brandenburg, der aber ebenso noch nicht am Ziel war.
Zur Zeit des Kreuzzugs war ein Wigger genannter Mann der Oberhirte von Brandenburg. Er war 1138 dazu bestimmt worden. Durch ihn richtet sich der Blick auf die Prämonstratenser, denen Wigger angehörte. Er dürfte zu den Ordensbrüdern der ersten oder zweiten Stunde gehört haben. Denn er stammt aus dem Kloster Cappenberg, in dem er Stiftsherr war. Schon ein Jahr nach Gründung in Premontré war dem Orden die Burg Cappenberg übereignet worden. Da waren die Prämonstratenser noch nicht mal vom Papst offiziell anerkannt. Durch die Schenkung des Grafen von Cappenberg vollführten die Prämonstratenser einen mehr als 400 Kilometer weiten Spagat nach Nordosten. Denn die Burg liegt bei Dortmund in Westfalen.
Noch weiter war die Distanz, die Ordensgründer Norbert von Xanten überbrückte, als er 1126 überraschend zum Erzbischof von Magdeburg geweiht wurde. Er installierte und etablierte gegen alle Widerstände die Prämonstratenser im Ort an der Elbe. Unter diesem Metropoliten machte Wigger schließlich ab 1130 Karriere und brachte sich in Position. Zwei Jahre nachdem Norbert gestorben war, wurde Wigger in den Rang des Bischofs erhoben. Wie das Bistum Havelberg war das Bistum Brandenburg schon Mitte des 10. Jahrhunderts geschaffen worden und unterstand dem Erzbistum Magdeburg, von wo aus die Missionierung der ostelbischen Slawen in Angriff genommen wurde.
Die Prämonstratenser-Klöster Leitzkau und Jerichow wurden zu ostelbischen Brückenköpfen. Dort residierten vorübergehend die Bischöfe, die es - da ihnen der Zugriff auf die Bistümer noch unmöglich war - nur auf dem Papier gab. Von Jerichow aus erfolgte 1147 im Zuge des Wendenkreuzzugs der Griff nach Havelberg, wo Prämonstratenser die geistliche Regentschaft nun vor Ort übernehmen konnten. Mit so wenigen Worten lässt sich der Übergang in Brandenburg nicht beschreiben.
1157 ist das Jahr, in dem Albrecht der Bär die weltliche Herrschaft endgültig antrat. Daher feierte das Land Brandenburg 2007 sein 850-jähriges Bestehen. 1150 war der letzte Slawenherrscher gestorben, mit dem der Askanier eine Erfolgeregelung getroffen haben soll. Das und viele andere Vorgänge, die in der Geschichtsschreibung als gesichert galten, sind nun mehr oder weniger in Frage gestellt. Dafür sorgte Christina Meckelnborg, eine Klassische Philologin, indem sie die wichtigste Quelle zu den Jahren vor und nach 1150 sehr kritisch analysierte. Es handelt sich um das "Tractatus de urbe Brandenburg".
Wer es ganz genau wissen will, kauft sich das von Meckelnborg geschriebene und 2015 herausgegebene Buch zum Thema. Auf wesentliche Angaben komprimiert ist ein Beitrag zum "Tractatus" auf www.brandenburgikon.net zu finden, wo Landesgeschichte online geboten wird. Die Autoren sind Experten auf ihrem Gebiet. Christina Meckelnborg gehört zu ihnen.
Kurzum, das Tractatus (bzw. Traktat/eine schriftliche Abhandlung) in seiner über Historikergenerationen bekannten Version stellt aus aktueller Sicht nur noch eine enorme Ergänzung dessen dar, was das unbekannt gebliebene Original hergibt. Sehr wahrscheinlich waren es Prämonstratenser, die das ursprüngliche Traktat durch ihnen genehme Zusätze versahen bzw. interpolierten - sogar zwei Male. Meckelnborg hat den ursprünglichen Kern des Traktats herausgeschält, der eigentlich nur darin besteht, das weltliche Wirken von Albrecht dem Bären zu würdigen und den Herrschaftsanspruch der Askanier dadurch zu legitimieren - von Kirchenfürsten ist da keine Rede. Im Nachhinein, die erste Interpolation, wird das Zutun der Prämonstratenser betont. In der zweiten Interpolation wird Leitzkau hervorgehoben.
Es hat also den Anschein, dass es keine Partei mit der Wahrheit wirklich hatte. Die Suche nach Fakten und nach dem, was frei erfunden wurde, stellt die Wissenschaft vor neue Herausforderungen. Bislang galt es als sicher, so gibt es das zweifach interpolierte Traktat her, dass der Slawenfürst bzw. -könig Pribislaw-Heinrich zu seinen Lebzeiten Prämonstratenser aus Leitzkau auf dem Gebiet der heutigen Altstadt Brandenburg (damals Parduin) angesiedelt hatte. Grundannahmen etlicher Historiker basieren darauf. So meint man etwa, dass die Übersiedlung 1147 erfolgt sei - im Vorfeld des Wendenkreuzzugs. Urkundlich gesichert ist die Anwesenheit von Prämonstratensern erst ab Anfang 1166.
Das interpolierte Traktat könnte also den Versuch darstellen, der Kirche im Allgemeinen sowie den Prämonstratensern und Leitzkau im Speziellen ein unmittelbares Zutun bei der Erlangung Brandenburgs zuzuschreiben. Der zweite Interpolator machte sich sogar die Mühe, jene Männer namentlich aufzuführen, die vor 1150 durch den Slawenherrscher aus Leitzkau herbei geholt worden sein sollen. Das sind: Wigbert, Walter, Gerhard, Johannes, Riquinus, Sigerus, Hilderadus, Moisen und Martin. Neun an der Zahl!
Wahrheit, Halbwahrheit oder Erfindung? - Es kann genauso gut sein, dass es diese Männer zwar gab und sie tatsächlich um 1147 die ersten Prämonstratenser im slawischen Hevellerreich waren, doch womöglich gar nicht aus Leitzkau stammten, sondern wie ihr Ordensgründer aus Nordfrankreich – auf die Reise geschickt im Vorfeld des Wendenkreuzzugs bzw. in dessen Schatten. Laut Traktat hatte die Neuner-Gruppe nur "Bibeln, Kelche und etwas Geld" mitgenommen. Von einer großen Kiste, die auf einem Karren befördert wurde, ist freilich keine Rede.