Der Havelländer aus Falkensee ist inzwischen 94 Jahre alt, sein Erlebnis in Frankreich liegt in ferner Vergangenheit. Dem Mann mit dem wachen, klaren Blick, verlässt zunehmend die körperliche Kraft. Bis vor ungefähr einem Jahr ging er noch in die Schulen, erzählte von seiner Zeit im Widerstand.
Wenn er den Jugendlichen vom Massaker in Oradour-sur-Glane erzählte, jenem französischen Dorf, dass die deutsche Waffen-SS im Juni 1944 dem Erdboden gleichmachte, fast alle Bewohner tötete, dann rollten auch bei den jungen Leuten die Tränen, erzählt Stenzel. "Die Frauen und Kinder hatten sie in die Kirche gesperrt und das Gebäude angesteckt. Die Männer wurden in Scheunen gesperrt, diese wurden ebenfalls angezündet. Manchen der Männer gelang es, sich zu befreien. Sie kamen nicht weit, sie wurden erschossen."
Erhard Stenzel kommt nicht mehr oft aus dem Haus, die Welt muss zu ihm kommen. Sie kommt in Form zweier Tageszeitungen, die er von vorn bis hinten liest. "Man muss viel erleiden", kommentiert er die täglichen Nachrichten. "In diesem wohlhabenden Land ernähren rund 900 Suppenküchen über eine Million Menschen. Gleichzeitig ist der Verteidigungsetat der zweitgrößte Etat. Die Menschen haben offenbar vergessen, wie verheerend Krieg ist. Sie unterschätzen die Gefahr."
Stenzel war erst acht Jahre alt, als er Grausamkeit kennenlernte. Der Sohn kommunistischer Eltern erinnert sich gut an jene Nacht, im Jahr 1933, als sein Vater abgeholt und in "Schutzhaft" genommen wurde. "Sie haben ihn blutend auf einen Lkw geschmissen", erzählt Stenzel. Es ist das letzte Bild, das er von seinem Vater im Kopf hat.
Stenzels Vater überlebte die "Schutzhaft" nicht, wurde 1934 ermordet. Am nächsten Tag in der Schule wussten alle, was passiert war, niemand sagte etwas, alle schwiegen. Als der junge Stenzel Jahre später selbst in den Krieg eingezogen wird, steht für ihn fest: "Ich werde nicht für Hitler kämpfen."
Dass der Soldat Stenzel sich widersetzten würde, ahnte man wohl. Er wurde zunächst nach Nord-Norwegen geschickt, eisige Kälte - und an Flucht nicht zu denken. Mit der Versetzung nach Frankreich, sah Stenzel seine Chance.
In Frankreich lernte er einen Schuster kennen. Dieser kam aus dem Elsass, sprach deutsch und war bei der Résistance. Letzteres wusste Stenzel nicht. Sie kamen ins Gespräch, Stenzel erzählte von seinem Vater, und bevor er wieder ging, sagte ihm der Schuster, wenn er, Stenzel, einmal Probleme habe, könne er sich melden.
Nur kurze Zeit später lief Stenzel des Nachts Patrouille mit zwei jungen Kameraden. "Die waren noch unerfahren, gerade erst aus dem Reich gekommen. Ich hatte eine Maschinenpistole, die beiden waren mit je einem Karabiner bewaffnet." Als Stenzel der Moment günstig schien, blieb er stehen, richtete seine Maschinenpistole auf die Beiden. "Ich sagte ihnen, für mich ist hier der Krieg zu Ende. Ich würde jetzt gehen, und sie könnten, wenn sie überleben wollen, mitkommen. Wollten sie aber nicht. Die glaubten wirklich, Hitler würde diesen Krieg gewinnen."
Stenzel kassierte die beiden Karabiner ein und forderte die Beiden auf, sehr langsam zurückzugehen. "Wenn ihr rennt, schieße ich euch in die Knie!" Kaum setzten sich die Zwei in Bewegung, war es Stenzel, der es eilig hatte. Er klopfte beim Schuster, fand Einlass und saß nur wenige Minuten später in einem Auto.
In einem Lager der Résistance wurde er drei Tage lang verhört, dann: "Ich war am 3. Januar 1944 geflohen, am 6. Januar wurde ich Mitglied der französischen Kommunistischen Partei", sagt Stenzel, der später Mitglied der SED und heute den Ehrenvorsitz für die Partei Die Linke im Havelland inne hat. "Damit bin ich seit 75 Jahren durchgehend Mitglied einer kommunistischen Partei."
Für die nächsten anderthalb Jahre waren Bunker im Wald sein Zuhause. Er teilte es mit einer deutsch sprechenden Truppe. Franzosen aus dem Elsass, Deutsche, Österreicher, Schweizer, Holländer. "Wir waren damals schon gute Europäer", sagt Stenzel, der Jüngste im Bunde und deshalb Benjamin gerufen.
Die Einheit Europas, den Frieden, in dem wir leben dürfen, sind gefährdet, sagt Stenzel. Durch die rechtspopulistischen Strömungen in Europa. Er sagt, die Politiker müssten die Probleme der Leute wieder ernst nehmen. "Wenn in den Dörfern, die letzte Post, die letzte Gaststätte schließt und der Bus nicht mehr fährt, dann sind das Probleme, die die Menschen zu Recht aufregen. Wenn die keiner löst, laufen die Menschen denen hinterher, die diese Lage nur zuspitzen. Die Rechten haben keine Lösungen, sie nutzen die Lage nur für sich aus", sagt Stenzel.
Er war dabei als Le Havre, Rouen und Paris befreit wurden. "Das war eine große Freude. Man konnte noch das Granatfeuer hören, während die Menschen auf den Straßen tanzten, sangen, alle Kirchenglocken haben geläutet. Manche hatten Blumen gepflückt und schenkten sie uns." Stenzel erhielt später die Auszeichnung "Held der französischen Republik."
In Abwesenheit war er von den Nazis als Deserteur zum Tode verurteilt worden. Ein Urteil, dass in der Bundesrepublik Deutschland, erst 2002 aufgehoben wurde. Erhard Stenzel lebt in Falkensee, ist verwitwet, hat zwei Töchter, fünf Enkel und sechs Urenkel.