November wird Margot Kunze 80 Jahre alt. Am Strausberger Lindenplatz ist sie "als Scheiberts Tochter", wie sie betont, geboren und aufgewachsen. Als sie mit der ganzen Familie am Sonnabend, dem 4. November 1989, ihren 50. Geburtstag feierte, schauten die meisten immer wieder zum Fernseher. Dort wurde die große Kundgebung vom Alexanderplatz übertragen. "Da sprach der Jan Josef Liefers, das war natürlich interessant", zeigt Margot Kunze Verständnis für ihre Verwandten. Ihre Familie war keine Ausnahme, nicht einmal übermäßig politisch interessiert, sagt sie. Ihr Mann Horst sei nie in der Partei gewesen, nicht einmal im FDGB, der Einheitsgewerkschaft: "Für den hat es nur die Arbeit im Werk für Fernsehelektronik gegeben, sonst nichts." Aber damals haben wohl die meisten DDR-Familien gespannt die politischen Nachrichten und Berichte im Fernsehen verfolgt, vom DDR-Sender wie in ARD und ZDF.
Margot Kunze lernte Krankenschwester und arbeitete anfangs auf der Strausberger Entbindungsstation. 1959 lernte sie ihren Horst kennen. Der hatte sich beim Fußballspielen ein Bein gebrochen. Er lernte zunächst bei Narva, dem Glühlampenhersteller, und wohnte in Rehfelde nahe dem Bahnhof bei seinen Eltern. Von dort fuhr er mit dem Personenzug, der von einer Dampflok von Küstrin bis Lichtenberg gezogen wurde, und von dort mit einem anderen Zug Richtung Schöneweide. Als er eines Tages mit seinen Freunden aus der Berufsschule kam, sah er demonstrierende Arbeiter. Die Jungs machten mit und warfen mit Steinen. Das blieb nicht unbemerkt. Es war der 17. Juni 1953, und Horst Kunze musste vorzeitig die Lehre beenden und war plötzlich arbeitslos. Das Werk für Fernsehelektronik stellte ihn ein. Er musste Nägel gerade klopfen und Türrahmen zerhacken. "Die niedersten Arbeiten waren gerade gut genug", erzählt Margot Kunze. Doch arbeitete er sich zielstrebig nach oben, wurde Meister und machte später viele Verbesserungsvorschläge.
"Am Anfang, so 1960, verabredeten wir uns oft am S-Bahnhof Warschauer Straße und liefen über die Oberbaumbrücke nach drüben. Dort kauften wir uns zwei Bananen und gingen in ein billiges Kino." Am besten habe ihr damals der Film "Vom Winde verweht" gefallen. An der Schlesischen Straße standen seinerzeit einige Kinos aufgereiht zwischen Treptow und der Schillingbrücke. Die hatten ihre Anfangszeiten so abgestimmt, dass man von einem Film in den Nächsten wechseln konnte. Der Eintritt kostete damals 25 Pfennige.
Als Margot Kunzes Mutter ihren 74. Geburtstag beging, das war am 8. November 1989, war die Aufmerksamkeit fürs Geburtstagskind wieder etwas eingeschränkt. Jeden Tag überschlugen sich die Ereignisse. Und beim großen Familienfest am 11. November, dem darauf folgenden Sonnabend, waren alle um eine Erfahrung reicher: den ersten Besuch in Westberlin.
Dicht gedrängt in der S-Bahn
Horst Kunze arbeitete da schon mehr als 35 Jahre im Berliner Werk für Fernsehelektronik, wo die Bildröhren und sogar Farbbildröhren für die DDR-Fernseher hergestellt wurden. Am 10. November war er auch zur Arbeit gefahren. Aber zum Feierabend hatten sich die Kunzes wieder verabredet: am S-Bahnhof Warschauer Straße! Sie trafen sich und gingen wie 28 Jahre zuvor über die Oberbaumbrücke. "Es war beeindruckend. Schon in der S-Bahn konnte man nicht umfallen, so dicht an dicht standen die Leute. Von der Warschauer Brücke bis rüber lagen die Sektflaschen am Weg. Es war eine einzige Volksbewegung." Ihr Begrüßungsgeld holten sie schließlich in der Turmstraße in Moabit. "Es waren ja überall so lange Schlangen!" Dass es so kam, wie es gekommen war, hatte sie damals nicht so sehr überrascht: "Es hatte schon eine ganze Weile gegrummelt."