In der zweiten Oktoberhälfte 1989 organisierte das Neue Forum in Hagenow im damaligen Bezirk Schwerin, heute Mecklenburg-Vorpommern, eine Kundgebung. Werner E. Ablaß, damals Leiter eines evangelischen Altenheimes, hielt eine aufrührerische Rede. Und das in Sichtweite eines Wohnblocks, in dem angeblich 100 Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit mit ihren Familien wohnen. Eine sowjetische Kaserne mit 1000 Soldaten ist nicht weit. Als ein Kundgebungsteilnehmer kühn ein Honeckerporträt in Sträflingskleidung hochhielt, hatten viele ein mulmiges Gefühl. "Die meiste Angst hatten wir aber nicht vor den Sowjets, sondern vor den MfS-Leuten", erinnert sich Werner E. Ablaß heute.
In den Zeiten des Umbruchs, als Egon Krenz kurzzeitig Honecker ersetzte und sich Bürgerrechtler, kritische Künstler und unzufriedene Bürger immer mehr Gehör verschafften, gab es zwischen Ostsee und Erzgebirge sehr unterschiedliche Vorstellungen vom weiteren Weg des kleineren deutschen Staates. "Ich stellte mir eine kleine pazifistische DDR nach dem schwedischen sozialdemokratischen Modell der Sozialpartnerschaft – des Volksheims – vor", erzählt Ablaß. Als dann am 9. November 1989 eher unabsichtlich die Grenze über Nacht geöffnet wurde, wurde ihm schnell klar: Das ist das Ende der DDR und auch das Ende vieler gesellschaftspolitischer Utopien für sie.
Der Bürgerrechtler Ablaß gründete den Demokratischen Aufbruch mit. Als einziges Vorstandsmitglied hat er wohl bis heute alle Protokollordner aus dieser bewegenden Zeit. Ebenso wie die Protokolle aller Kabinettssitzungen der Regierung de Maizière vom 10. April bis zum 2. Oktober 1990. Mit sehr vielen handschriftlichen Notizen und Randbemerkungen zu den damaligen Ereignissen. Denn Ablaß hatte das Ende der DDR an maßgeblicher Stelle mitgestaltet. Er, der sich eine pazifistische DDR erträumt hatte, wurde nämlich Staatssekretär unter einem Verteidigungsminister, der als Wehrdienstverweigerer lieber acht Monate im DDR-Gefängnis gesessen hatte als auch nur den Spaten der Bausoldaten in die Hand zu nehmen: Rainer Eppelmann. "Es hieß Ministerium für Abrüstung und Verteidigung, und die Reihenfolge war keine alphabetische, sondern eine politische", so Ablaß.
30 Jahre später blickt Werner E. Ablaß mit Dankbarkeit auf den 9. November 1989 zurück: "Das Entscheidende und Allerwichtigste war, dass das Ganze ohne Blutvergießen über die Bühne gegangen war." Als Staatssekretär hatte er später von April bis Anfang Oktober mit denen zu tun, die in größten inneren Konflikten eben nicht hatten schießen lassen, die sich für ihre Leute einsetzten und ein friedliches Ende der DDR ermöglichten. "Ich habe die von Honecker und Krenz unterzeichneten Befehle, dass keine Schusswaffen einzusetzen waren, in meinen Unterlagen." Und er erinnert sich an intensive Gespräche mit Kommandeuren bis hin zum Chef der Grenztruppen, der ihn fragte: Was wird denn jetzt mit meinen Leuten?
Zum Ende der DDR dienten noch 14 000 Mann mit den grünen Biesen an den Schulterstücken, hinzu kamen Zivilbeschäftigte und Familienangehörige. "Erst hieß es immer: Stasi in die Produktion! Als dann ehemalige Stasi-Angehörige in den Betrieben arbeiten wollten, waren die durchaus nicht mehr willkommen", erinnert sich der heute 72-Jährige. Doch für die war er nicht zuständig. Er musste sich neben den Grenzsoldaten um 105 000 Soldaten, 50 000 Zivilbeschäftigte und 100 000 Beschäftigte in der "speziellen Produktion", so hießen die Rüstungsbetriebe, kümmern. Wie mit dem Osten nach der Vereinigung umgegangen wurde, macht Ablaß bis heute weder stolz noch glücklich: "Kein Dax-Unternehmen im Osten, kein einziger Hochschulrektor aus dem Osten – und das 30 Jahre nach der Grenzöffnung!"
Und wenig stolz ist er auch auf die damals einsetzende außenpolitische Entwicklung. Als im Juni 1990 zum letzten Mal das Komitee der Verteidigungsminister des Warschauer Paktes tagte, tat es dies im neuen Tagungszentrum des DDR-Verteidigungsministeriums in Strausberg. Dem Oberkommandierenden des Warschauer Vertrages, Armeegeneral Pjotr Georgijewitsch Luschew, habe er dort versprochen, dass es mit der deutschen Einheit keine Ausweitung der Nato nach Osten geben werde. Als vier Jahre später die sowjetischen Streitkräfte abgezogen waren und der Präsident der Russischen Föderation, Boris Jelzin, in der russischen Botschaft Unter den Linden für Kanzler Helmut Kohl "und uns Fußvolk" ein Abschiedsessen gab, sprach ihn der pensionierte Luschew wieder auf sein Versprechen an. Bis heute hadert Ablaß mit dieser Entwicklung, wenngleich es nicht seine Schuld ist, dass Polen und die baltischen Länder in die Nato drängten. Aus seinen Worten spricht Verständnis für die Enttäuschung der Sowjets über diese wortbrüchige Ausweitung der Nato bis vor ihre Haustür. Und er schätzt deren Integrität und das Vertrauen, das sie ihm schon in den Zwei-plus-Vier-Gesprächen, an denen er beteiligt war, immer entgegenbrachten.
Tätigkeit für die Bundeswehr
Das Militärische ließ Ablaß nach dem Ende der DDR und damit seines Staatssekretärpostens nicht los. Bis 1996 leitete er die Außenstelle des Bundesministeriums für Verteidigung in Strausberg. Anschließend war er bis 2011 als Beauftragter für Sonderaufgaben im Bereich der Bundeswehr in den neuen Ländern mit Sitz in Strausberg tätig.
"Wenn wir im nächsten Jahr auf drei Jahrzehnte deutsche Einheit zurückblicken, werden wir mehr über die Fehler reden als über das Erreichte, das für uns alle heute selbstverständlich ist", so die Einschätzung von Werner E. Ablaß. Doch er wisse die Freiheit, die er heute genießt, sehr zu schätzen und wertet sie höher als die Defizite im Prozess der deutschen Vereinigung, der mit der Grenzöffnung vor 30 Jahren bewusst oder unbewusst in Gang gesetzt wurde und bis heute nicht vollendet ist.