„Das Herz der Stadt ist stark“, sagt Susanne Schmidt. Wie es in Berlin schlägt, spürt sie am meisten, wenn sie Bus fährt. „Nirgends ist die Bereitschaft der Stadtbevölkerung, richtig laut zu sagen, was Sache ist, freimütiger“, schreibt die ehemalige Busfahrerin in ihrem neuen Buch. In „Please leave the bus here: Ein Bus, 26 Haltestellen“ erzählt die Berlinerin von Beobachtungen, die sie unterwegs gemacht hat.
Nach ihrem Überraschungshit und Spiegel-Bestseller „Machen Sie mal zügig die Mitteltüren frei“ hat die 63-Jährige nun allerdings die Rollen getauscht und selbst als Fahrgast im gelben Doppeldecker Platz genommen.
Entlang der Buslinie M19 von Kreuzberg über Schöneberg nach Charlottenburg bis in den Grunewald porträtiert Schmidt die Stadt und ihre Bewohner. Stationen und Begegnungen erstrecken sich vom Gemüsedöner in Kreuzberg bis in die Pizzeria in der edlen Villengegend an der Endstation. Schmidt steigt dabei häufig auch aus, durchstreift die Kieze entlang der Haltestellen, macht Station im Graffiti-Museum an der Bülowstraße oder beleuchtet das buntqueere Viertel rund um den „Nolli“.
Oder sie macht ein Picknick mit Freunden am „Lebensalterbrunnen“ am Wittenbergplatz. „Die Currywurstverkäufer wischen wieder und wieder ihre Tresen sauber, geben freche Antworten auf dämliche Fragen“, schreibt Schmidt. „Und mittendrin steht der prächtige U-Bahnhof, groß wie eine Villa, repräsentativ wie ein Regierungsgebäude, einzigartig in allen Einzelheiten.“

An jeder Haltestelle ändert sich die Mischung

So ist das Buch auch eine Art Stadtführer, der das Jetzt beschreibt, aber ab und zu auch einen Schlenker in die Historie der Orte macht. Doch vor allem wird der Bus selbst zum Mikrokosmus. „An jeder Haltestelle ändert sich die bunte Mischung. Nirgendwo sonst ist demokratisches Verhalten unverfälschter als hier. Da wird gemeckert und geschimpft, wo andere nur mit den Schultern zucken. Da wird aber auch bestärkt, gelacht und unterstützt“, schreibt Schmidt.
Zum Beispiel, wenn einer älteren Touristin im Gerempel beim Ausstieg die Brille unter den Bus fällt und die sonst so ruppig-genervten Einheimischen auf Händen und Knien mit Zweigen unter dem Bus herumstochern.
„Der Bus ist unser gesellschaftlicher Reichtum, er befördert unbesehen alle Menschen gleich“, meint Schmidt. Im Bus gebe es nur wenige Regeln. Die wichtigste sei, gegenseitige Rücksichtnahme zu üben. Nirgendwo funktioniere das direkter und beständiger als im Gedränge eines überfüllten Busses. „Man rutscht zusammen, zieht den Bauch ein, kommt Unbekannten viel zu nah, lernt Parfums und Aftershaves kennen, tritt sich auf die Füße. Niemand regelt das Zusammensein im Bus, und doch regelt es sich immer wieder neu“, schreibt die Autorin.
Sie selbst wurde 1960 am Rande des Ruhrgebiets geboren und lebt seit 1976 in Berlin. Bevor sie bei den Berliner Verkehrsbetrieben (BVG) anheuerte, arbeitete sie als Erzieherin, Drehbuchautorin, Stadtführerin, Pförtnerin und Social-Media-Managerin. Als die BVG mit einer Werbekampagne explizit um Frauen warb, ließ sie sich zur Busfahrerin umschulen.

Von der Busfahrerin zur Bestsellerautorin

Über ihre Zeit hinter dem Steuer eines großen gelben Doppeldeckers veröffentlichte sie 2021 im Hanserblau Verlag das Buch „Machen Sie mal zügig die Mitteltüren frei“. Mit über 25.000 verkauften Exemplaren wurde es nicht nur zum Überraschungserfolg und Spiegel-Bestseller, sondern auch über die Berliner Stadtgrenzen hinaus gerne gelesen. Susanne Schmidt hatte den aufreibenden Schichtdienst als BVG-Fahrerin aber schon vorher an den Nagel gehängt.
Doch das Busfahren an sich hat es ihr weiterhin angetan. „Ich kann nicht genug bekommen von diesem Durcheinander, dem Gedrängel und Platzmachen, dem Sehen und Hören, den Begegnungen im Takt der Haltestellen.“
Preiswerte Sightseeing-Tour: Vom Oberdeck der gelben Berliner Doppeldecker der Linie M19 kann man gut die City West erkunden.
Preiswerte Sightseeing-Tour: Vom Oberdeck der gelben Berliner Doppeldecker der Linie M19 kann man gut die City West erkunden.
© Foto: Maria Neuendorff
Vom Oberdeck aus hat sie nun auch eine bessere Sicht auf die Berliner Balkone, ihre Bewohner und Botschaften. Erst jetzt fällt ihr auf, wie manche Häuserfronten an den Straßenecken abgerundet sind. „Am Kudamm gibt es keine scharfen Häuserecken. Das ist ein Detail, das fast unbemerkt für weiche architektonische Schwingungen sorgt, die sich auf den Gesamteindruck übertragen.“

Das Gesetz der Straße

In zwölf Episoden und über ein ganzes Jahr hinweg erzählt Susanne Schmidt von ihren Beobachtungen und Abenteuern und gibt sich dabei auch Zeit, nicht nur über die Stadt - sondern auch über gesellschaftspolitische Zustände nachzudenken. Ob es der Lehrkräftemangel an Berliner Schulen ist, das Nachhallen des Terroranschlags am Breitscheidplatz oder die Protestfreudigkeit der Hauptstädterinnen und Hauptstädter oder die Schikane von Ampelschaltungen.
„Es wird gehupt und mit aufheulenden Motoren erschreckt und gedrängelt, so will es das ungeschriebene Gesetz der Straße. Die Ampelphasen nehmen keine Rücksicht auf kaputte Hüften, gebrochene Beine, müde Knochen.“ Die ständige Angst, angefahren zu werden, es diesmal nicht zu schaffen, treibt Susanne Schmidt stellvertretend die Wut ins Gesicht.
Dafür genießt sie, dass in Berlin Schubladendenken gerne die kalte Schulter gezeigt wird. „Ein Mann im Kleid mit toupierter Ponyfrisur und Netzstrümpfen kann ein Manager sein, ein Mechatroniker oder ein Künstler. Eine Frau mit langen Fingernägeln, blondierten Haaren und kleinem Hund kann eine erfolgreiche Rechtsanwältin sein, eine Schuldirektorin, eine Vorständin einer Baufirma, eine Putzhilfe.“
Im Laufe ihrer Exkursionen kommt die Autorin aber noch zu einer anderen Erkenntnis, nämlich dass das Smartphone das Verhalten der Menschen im öffentlichen Nahverkehr in Berlin verändert hat. „Gab es früher verbale Auseinandersetzungen wegen vieler Kleinigkeiten, befrieden heute Fotos oder Sprachaufnahmen von unverschämten Menschen die erste Wut“, hat Schmidt festgestellt.
Der herrschaftlich gestaltet U-Bahnhof Wittenbergplatz hat es Autorin Susanne Schmidt angetan.
Der herrschaftlich gestaltet U-Bahnhof Wittenbergplatz hat es Autorin Susanne Schmidt angetan.
© Foto: Maria Neuendorff
„Bevor man fantasievolle Beschimpfungen und feurige Körperbewegungen austauscht, verpufft viel Ärger in das schwarze Viereck des Smartphones. Geht hier still und leise ein uraltes Kulturgut zu Ende? Werden die Großstadtmenschen nun etwa sanft und zutraulich, weil aller spontaner Ärger und die Lust am Meckern eine Ersatzbefriedigung gefunden haben?“, fragt die Autorin etwas verstört und weiß nicht so recht, wie sie das finden soll.

Die Poesie der Zeitungsverkäufer

Das Handyverhalten ist auch in der Bahn nicht anders, in die Susanne Schmidt kurzzeitig mal umsteigt. Das erschwert natürlich auch die Arbeit der Zeitungsverkäufer und Bettler. Dabei seien deren Sprüche oft voller Poesie, findet Schmidt. „Sie sind gesprochene Bewerbungen für die Aufnahme in die Gesellschaft oder für die Akzeptanz ihrer Lebensweise. Sie enthalten die wichtigsten Eckpunkte: Name, Grund – manchmal auch Ursache des Bettelns, Verwendungszweck der Einnahmen und fast immer schöne Grüße und gute Wünsche an alle“, so die Autorin. Man lerne schnell, freundlich „Tut mir leid“ oder einfach „Nein“ zu sagen. Es gibt keine Verpflichtung, die vielen Fragen nach ein paar Cent oder Euro positiv zu beantworten.

Die Wut der Durchschnittsverdiener

Doch Schmidt beschreibt auch die Angst und Wut der Durchschnittsverdiener, die sich in der Zeit der Krisen nun sehr genau überlegen, ob sie sich noch einen Cappuccino im Café leisten oder die Heizung anmachen sollen. Aber auch der „Überschwang der jungen Neuberliner, die sich plötzlich außerhalb der Traditionen ihrer Heimatgemeinden befinden und die unbekannte Freiheit der Toleranz erst kennenlernen müssen“, sorge oft für Unruhe. „Sie müssen verstehen, dass Großstadt ein ständiges Zusammenspiel von Anarchie und Regeln bedeutet, gleich einem Mobile, das sich am schönsten bewegt, wenn alle Teile gut austariert und gleichermaßen wertig sind“, findet Schmidt.
So beobachtet sie gerne im Bus, „wie die vielen Leute sich sortieren, um ohne blaue Flecken einzusteigen, Platz zu machen, ohne Platz zu verschenken. Fast ist es eine Choreografie, die vieltausendfach tagtäglich gut funktioniert“.

Busfahren in der Silvesternacht

Und in manchen Momenten kann die Choreografie der Großstadt auch in eine große rauschende Party ausarten. „In der Silvesternacht gibt es kein besseres Verkehrsmittel als den Bus“, findet die Berlinerin. „Dicht gedrängt stehen und sitzen die Fahrgäste, schwenken Sekt- oder Bierflaschen, singen, grölen, kommen sich schnell näher, tauschen kleine Küsse und Getränke, machen sich blaue Flecken und laute Beschimpfungen“, schreibt sie im Dezember-Kapitel. „Spätestens ab 23 Uhr ist alles außer Rand und Band, Leute tanzen mitten auf den großen Kreuzungen, die Luft wird immer dicker, und mit jeder weiteren Ladung Böller aus China oder Polen wird die Sicht schlechter.“
Doch Susanne Schmidt beleuchtet in ihrem zweiten Buch auch die stillen Momente, die leisen Begegnungen und die einsamen Fahrten in der Corona-Zeit. „Selbst in tiefster Dunkelheit leuchtet das Gelb. Der Bus trägt Licht durch die Nacht und erfüllt bei jedem Halt das Versprechen: ,Steige ein, du bist willkommen, hier ist es warm, hell und sicher.‘“

Buch und Lesungen

Das Buch „Please leave the bus hier“ von Susanne Schmidt ist 224 Seiten stark und Ende Juli 2023 im Hanserblau Verlag erschienen. Es kostet 18 Euro.
ISBN: 978-3-446-27743-4.
Die Autorin liest am 21. September um 18.30 Uhr in der Bezirkszentralbibliothek Eva-Maria-Buch-Haus in der Götzstraße 8/10/12 in Tempelhof sowie am 17. Oktober um 19 Uhr in der Stadtteilbibliothek Marienfelde, Marienfelder Allee 109. Der Eintritt ist frei.