Am Sonntag treten in Berlin rund 35.000 Teilnehmer zum Halbmarathon an. Claus-Henning Schulke, der seit seinem 16. Lebensjahr Marathon läuft, wird nicht dabei sein. Der Extrem-Sportler wird wie jeden Sonntag mindestens sechs Stunden auf dem Rad sitzen und durch Berlin und Brandenburg strampeln.
Der 58-jährige persönliche Wasserträger des Marathon-Weltrekordlers Eliud Kipchoge hat ein anderes Ziel: Er hat sich für das Race-Across-America (RAAM) qualifiziert – das längste und härteste Einzelzeitfahren der Welt. Es führt von der Westküste rund 5000 Kilometer bis zur Ostküste einmal quer durch die USA. Wer rastet, verliert Zeit, denn die läuft weiter. „Ich werde versuchen, nicht mehr als eine Stunde am Tag zu schlafen“, sagt der Berliner. Und das zwölf Tage lang.
Power-Napping inmitten von Ameisen und Skorpionen
Wie sich diese Art von Schlafentzug bei gleichzeitig extremer körperlicher Belastung anfühlen kann, hat Schulke schon im vergangenen Jahr beim Atlas Mountain Race durch Marokko getestet. Auf dem Mountainbike ging es fünf Tage lang rund 1.200 Kilometer durch Gebirge und Wüsten. „Ich wollte wissen, wo mein Limit ist und ab wo es gefährlich wird.“
An seine Grenzen stieß er unter anderem bei einer Serpentinen-Abfahrt, bei der ihm teilweise schon die Augen zufielen. „Wenn man da einschläft, landet man ganz schnell im Nichts“. Als er sich für ein einstündiges Power-Napping in die Wüstenlandschaft legte, wimmelten rund um seinen Schlafsack Tausendevon Ameisen und Skorpionen. Das Phänomen sei aber nur eine Einbildung aufgrund der Überanstrengung und des Schlafmangels gewesen, ähnlich wie bei einem Drogenrausch, weiß Claus-Henning Schulke inzwischen.
Drogenerfahrung hat er nie gemacht. Momentan ist nicht mal ein Feierabendbier mit Freunden drin. Die gesamte Freizeit wird dem Training geopfert. Damit beginnt Schulke schon kurz nach 6 Uhr. Nach einem Müsli-Mango-Frühstück und zehn Minuten Muskel-Aufwärm-Übungen schwingt sich der Zehlendorfer in den Sattel und fährt mindestens 30 Kilometer. „Ich wohne in der Nähe der Krummen Lanke. Nach einer Runde durch den Grunewald über die Havelchaussee fahre ich mit dem Rad ins Büro in der Nähe des Alexanderplatzes“, berichtet der Ingenieur.
Schulke ist Projektmanager und hat unter anderem den Bau des Humboldt-Forums gemanagt. Momentan entwickeln er und sein Team ein riesiges Gewerbegebiet gegenüber der Zitadelle Spandau. Seine Arbeitstage beginnen um halb 9 und enden um 17.30 Uhr. Danach schlüpft Schulke wieder in seine knallgelbe wetterfeste Fahrradmontur und fährt durch die Innenstadt Richtung Südwesten zum Beispiel Richtung Potsdam und trainiert noch rund zweieinhalb Stunden. „Teufelsberg, Schwanenwerder, Pfaueninsel, ich versuche jeden kleinen Hügel in Berlin und Brandenburg mitzunehmen, denn in Amerika erwarten mich ja richtige Berge“, erklärt der Ausnahmesportler.
Von extremer Hitze bis Hagelstürme
Und vor allem auch wechselndes Wetter. In den Rocky Mountains kann Schnee liegen und Schulke könnte in Hagelstürme kommen. Im Death Valley könnte es dagegen bis zu 50 Grad heiß werden. Damit es nicht lebensgefährlich wird, besteht der Veranstalter des Race-Across-America auf ein Begleitteam mit zwei Autos, das hinter jedem Fahrer herfährt.
Neun Mann müssen es pro Teilnehmer sein, weil auch schon für die Begleiter der zwölftägige Nonstopp-Trip extrem anstrengend ist und man sich mit dem Schlafen abwechseln muss. Neben einem VW-Bus braucht es ein Wohnmobil zum Ausruhen. „Was die Kosten dafür betrifft, bin ich da völlig naiv rangegangen“, gesteht Schulke. 50.000 bis 60.000 Euro muss jeder Fahrer für die Teilnahme aufwenden.
Sponsoren und Begleiter gesucht
Schulke erhielt nach etwas Klinkenputzen in seinem Arbeitsumfeld eine Spendenzusage von 25.000 Euro. Dazu hat er unter www.bottle-claus-raam.de einen Aufruf mit der Bitte um Unterstützung gestartet. Sponsoren und Fans können ihn bei seinem Abenteuer, das am 13. Juni 2023 beginnt, auch über das Internet begleiten. Die Begleiter werden Fotos und Videos posten. Dazu kann man Schulke auch über einen GPS-Tracker verfolgen.
Momentan sucht er auch noch Mitfahrer für das Begleitteam. Unter den vier Freunden, die schon zugesagt haben, ist auch ein Physiotherapeut aus Dänemark. „Am schlimmsten wird es wahrscheinlich am Popo und an den Schultern, da kann er mir mit seinem Fachwissen sicher gut helfen“, freut sich Schulke.
Dazu muss das Team eingreifen, wenn Schulke im Fahrrausch seine Grenzen so extrem überschreitet und vielleicht nicht zurechnungsfähig ist, das selbst zu erkennen. In der Vergangenheit hat es beim US-Rennen schon Todesfälle gegeben, weil übermüdete Teilnehmer in den Gegenverkehr fuhren oder im Sekundenschlaf eine Klippe hinabstürzten.
Bei dem Rennen, dem man nachsagt, dass es viel härter ist als die Tour de France, kommen durchschnittlich maximal die Hälfte der Teilnehmer überhaupt ins Ziel. „2019 erreichten von 37 Fahrern gerade einmal vier die Ostküste“, berichtet Schulke. Neben dem Schlafmangel führe auch Nahrungsmangel zur absoluten Erschöpfung. „Manche können irgendwann einfach nichts mehr essen.“
Radrennfahrer müssen permanent trinken
Um die täglich nötigen 7000 Kilokalorien aufzunehmen, müssen ihm seine Helfer ständig Flaschen mit einer Elektrolyt-Flüssigkeit reichen. Um etwas Geschmack in den Mund zu bekommen, isst er ab und zu Bananen, Erdnüsse und Jogurt. „Aber eigentlich bin ich nur damit beschäftigt, die ganze Zeit Flüssigkeit in mich hineinzukippen.“
Die moderne Getränke-Mischung, auf die Schulke derzeit setzt, besteht aus Wasser und einem dänischen Energiepulver, das den Magen wenig belastet. Denn der Magen-Darm-Trakt kann im Normalfall nur 500 bis 750 Milliliter Wasser pro Stunde absorbieren, sonst droht die Gefahr einer Wasservergiftung.
Den Tipp für den Energie-Drink, der vom Körper schnell in den Darm durchgespült wird, hat Schulke von Eliud Kipchoge. Der kenianische Leichtathlet gilt als bester Langstreckenläufer seiner Zeit. Beim Berlin-Marathon hat Schulke ihm persönlich die Trinkflaschen gereicht. Die Ziel-Bilder der Freude des Weltrekordlers und seines euphorisierten Wasserträgers gingen um die Welt und bescherte „Bottle Claus“ sogar einen Artikel in der „New York Times“.
Schulke kümmert sich schon seit über 20 Jahren darum, dass beim Berlin-Marathon die besten Läufer der Welt während des Rennens ihre Getränke in Sekundenschnelle gereicht bekommen. Beim Halbmarathon am Sonntag müssen er und sein Team vom Berliner SCC diesen organisatorischen Aufwand aber nicht betreiben. „Bei dieser Distanz und den Wetterverhältnissen ist das noch nicht nötig“, erklärt Schulke.
Erster Marathon mit 16
Er selbst lief im Alter von 16 Jahren seinen ersten Marathon. „Danach habe ich mich auch bei Triathlon-Rennen ausgetobt, 16 Ironman-Wettkämpfe bestritten und war sechs Mal auf Hawaii.“
Als Schulke heiratete und Vater wurde, stellte er den Hochleistungssport eine Weile ein. Dass all seine Zeit für Arbeit und Sport draufging, wollte er seiner Familie nicht antun. Die Ehe zerbrach trotzdem. Als seine Ex-Frau eine neue Beziehung einging und ihm den Umgang mit den heute 16- und 17 Jahre alten Kindern untersagte, stürzte sich Schulke erneut in den Extrem-Sport. „Ich glaube, es ist auch eine Art der Kompensation für mich, weil ich meine Kinder nicht sehen kann.“
Ein Jugendtraum geht in Erfüllung
Als in der Corona-Zeit auch das gemeinsame Radtraining mit Gleichgesinnten untersagt wurde, fokussierte sich Schulke auf Ultradistanzen im Einzelfahren. 2021 gewann er das Race Across Germany in seiner Altersklasse und 2022 die Gesamtwertung. Damit qualifizierte er sich für das US-Rennen.
Der Traum, in Amerika zu starten, reicht aber bis ins Jahr 1987 zurück. „Damals durchquerte ich als Bike-Packer die USA von New York nach San Francisco. Auf halber Strecke kam mir ein Wohnmobil entgegen, aus dem mir eine Cola gereicht wurde.“ „Wir sind die Crew bei einem Radrennen, das Race Across America heißt“, stellt sich die Mannschaft vor. „Seitdem bin ich angefixt von dem Gedanken, selbst an diesem Rennen teilzunehmen“, sagt Schulke.
Der Preis dafür sind acht Monate tägliches stundenlanges Training selbst bei Frost oder Dauerregen und viele Entbehrungen. „Das soziale Leben fällt deutlich hinten runter. Natürlich fehlt es mir, mich mit Freunden abends im Restaurant zu treffen und mal zu Kulturveranstaltungen zu gehen“, sagt Schulke.
Doch das verbietet er sich derzeit selbst an den Wochenenden. Dann bricht Schulke zu langen Touren ins Umland auf, fährt oft gemeinsam mit anderen Rad-Enthusiasten von Berlin nach Brandenburg (Havel), Jüterborg oder Baruth. Doch die Gemeinschaft ist selbst dann nur von kurzer Dauer. „Die anderen biegen meist nach zwei Stunden ab und fahren nach Hause, während ich dann noch weitere vier Stunden ranhänge.“
Durchtrainiert trotz Eis und Schokolade
Ein paar Freuden gibt es bei all der einsamen Schinderei aber trotzdem. „Wenn man durch die Landschaft gleitet, den Wind im Rücken und den Kopf frei, dann kommt man manchmal in einen fantastischen Flow und die ganze Last, die man so mit sich herumschleppt, fällt plötzlich von einem ab.“
Zu Hause dann gönnt er sich neben kohlehydratreichen Nudelgerichten dann auch gerne Kuchen mit viel Schlagsahne. „Momentan kann ich auch so viel Eis und Schokolade essen, wie ich will, das genieße ich schon“, sagt der Mann mit dem durchgestählten Alabasterkörper.