Das Gasthaus „Erdinger“ am Berliner Gendarmenmarkt ist am Mittwochabend rappelvoll. Es sind zum größtenteil Gewerbetreibende und Anwohner, die zur Diskussionsrunde „Wie weiter mit der Friedrichstraße“ gekommen sind. Die Verantwortlichen für die umstrittene Fußgängerzone, die Bezirksbürgermeisterin in Mitte, Stefanie Remlinger, und Bezirksstadträtin Almut Neumann (beide Grüne) sowie die Chefin des Umwelt- und Ordnungsamts saßen nicht mit auf dem Podium. Sie hätten schon andere Termine gehabt, die Einladung zur Podiumsdiskussion, die eine Woche zuvor am 14. März ins Bezirksamt flatterte, sei zu kurzfristig gewesen, hieß es zur Entschuldigung.
So richtete sich aller Groll auf Stefan Lehmkühler, ebenfalls Mitglied der Grünen, der aber im Publikum saß. Der Diplom-Ingenieur gilt zwar als eine Art Initiator der „Autofreien Friedrichstraße“, ist aber längst nicht mehr in Amt und Würden. „Der Zustand, der jetzt herrscht, ist eine Katastrophe“, befand aber auch Lehmkühler.

Chaos in der Charlottenstraße

Was damit gemeint ist, hatten zuvor vor allem die Gewerbetreibenden geschildert. „Bei uns vor der Tür herrscht absolutes Chaos“, berichtete unter anderem Thomas Duxler, Chef des Hotel Luc in der Charlottenstraße. Gäste, Mitarbeiter und Lieferanten wüssten nicht, wie sie anreisen sollten.
Das Problem: Seit die Friedrichstraße zwischen Leipziger Straße und Französischer Straße Ende Januar nach jahrelangen Pilotversuchen erneut für Autos gesperrt wurde, versuchten Pkw-Fahrer wieder größtenteils in die parallel verlaufende Charlottenstraße auszuweichen, die allerdings inzwischen zur Fahrradstraße umgebaut wurde.
Die Ausschilderung dazu scheint nicht auszureichen. Das kritisierten zumindest mehrere Anrainer und forderten mehr Polizeistreifen, die die neuen Verkehrsregeln überwachen. „Das ist eine lebensgefährliche Situation, Unfälle mit Fahrradfahrern sind vorprogrammiert“, sagte auch Nils Busch-Petersen, Hauptgeschäftsführer des Berliner Einzelhandelsverbandes. Zumal die Charlottenstraße jetzt der einzige Zubringer zu den 1200 Pkw-Stellplätzen sei.
In dieselbe Kerbe hieb auch der Geschäftsführer des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbands Thomas Lengfelder. „Das Quartier an der Friedrichstraße ist ein Hotspot in Europa mit Fünf-Sterne-Plus-Hotels. Es kann doch nicht sein, dass die Touristen hier mit dem Auto herumirren“, ärgerte sich Lengfelder. „Wir sind alle keine Verkehrsexperten, aber ich erwarte, dass man sich Fachleute holt, die sich ... nicht nur um 500 Meter Straße kümmern, sondern sich intensiv mit der historischen Mitte auseinandersetzen.“

Kritiker fordern Gesamtkonzept für City Ost

Das passte zum gemeinsamen Tenor und Hauptkritikpunkt des Abends. Immer wieder wurde gefordert, dass die Verkehrsplaner erst gemeinsam mit den Betroffenen ein Gesamt-Konzept erarbeiten sollten, anstatt Anrainer und Besucher vor vollendete Tatsachen zu stellen. „Man darf schon was ausprobieren, aber muss einen Versuch auch mal beenden und auswerten“, fasst es Robert Rückel, Vizepräsident der IHK, zusammen.
Die Gewerbetreibenden haben das auf ihre Art getan. „Ich bin schon 2020 durch die Geschäfte gegangen, und wirklich niemand fand die autofreie Friedrichstraße gut“, berichtete Anja Schröder, Wein-Händlerin aus der Charlottenstraße. Schon damals habe es 17 Geschäftsschließungen gegeben. Das von ihr daraufhin gegründete Aktionsbündnis „Rettet die Friedrichstraße“ spricht derzeit von 19.

Mehrere autofreie Zonen in Mitte geplant

Im Rahmen eines „Verkehrsversuches“ wurde ein Teil der Friedrichstraße schon von August 2020 bis November 2022 für Autos gesperrt. Danach musste der Abschnitt vom Verwaltungsgericht nach der Klage eines Gewerbetreibenden zunächst wieder freigegeben werden.
Doch trotz großer Kritik und der unsicheren Regierungsbildung nach der Wiederholungswahl lässt die grüne Mobilitätssenatorin Bettina Jarasch nicht locker und ließ den entsprechenden Straßenabschnitt vom Bezirksamt Ende Januar entwidmen. Generell wollen die Grünen die östliche Mitte zu einem „fußgängerfreundlichen Raum“ mit mehr Aufenthaltsqualität umgestalten. Zu den anvisierten Orten für weitere „Flaniermeilen“ gehören unter anderem auch das Rathausforum, der Checkpoint Charlie sowie der Molkenmarkt.
„Die Friedrichstraße ist dabei zum Symbolthema geworden“, findet Lucas Schaal von der CDU, der für den Wahlkreis Mitte 2 gerade erst neu ins Abgeordnetenhaus eingezogen ist. Höchstwahrscheinlich hat ihm das Gebaren der Grünen, denen immer wieder mangelnde Öffentlichkeitsbeteiligung bei ihren Verkehrsberuhigungsprojekten vorgeworfen wird, die nötigen Stimmen bei der Wiederholungswahl gebracht.
Die rund 120 Plätze in der ersten Etage des "Erdinger"-Gasthausers am Gendarmenmarkt sind voll besetzt. Das Aktionsbündnisses "Rettet die Friedrichstraße" hatte am Mittwochabend zur Podiumsdiskussion geladen. Die verantwortlichen Politiker der Grünen kamen jedoch nicht.
Die rund 120 Plätze in der ersten Etage des „Erdinger"-Gasthausers am Gendarmenmarkt sind voll besetzt. Das Aktionsbündnisses „Rettet die Friedrichstraße“ hatte am Mittwochabend zur Podiumsdiskussion geladen. Die verantwortlichen Politiker der Grünen kamen jedoch nicht.
© Foto: Maria Neuendorff
Er selbst wolle sich dafür einsetzen, dass man in Sachen Friedrichstraße möglichst schnell wieder auf die „Nulllinie zurückkommt“, um danach gemeinsam mit der Stadtgesellschaft zu diskutieren, wie man das gesamte Areal inklusive Gendarmenmarkt entwickeln wolle, betonte der 32-jährige Politiker.

Initiative will mit Widersprüchen Öffnung erwirken

Stefan Lehmkühler, Grünen-Mitglied ohne Mandat und selbst Anwohner, glaubt aber, dass erst 2026/27 die letzten Messen zur Gestaltung gesungen sind. „Bis dahin bleibt es so wie jetzt.“
So lange will die Initiative „Rettet die Friedrichstraße“ nicht warten. Ihr Anwalt Marcel Templin, der schon die zeitweilige Öffnung der Friedrichstraße durchsetzte, prüft derzeit Möglichkeiten für ein Eilverfahren gegen die Teilentwidmung. Wenn die 15 Widersprüche von Anliegern und Geschäftsleuten, die er eingereicht hat, abgelehnt werden sollten, wäre der nächste Schritt das Verwaltungsgericht, erklärt Templin. „Im Zweifelsfall könnten wir bis zum Europäischen Gerichtshof gehen.“

Leerstand in der Einkaufsstraße

Bis dahin könnte die Friedrichstraße als Geschäftsstraße aber vielleicht schon Geschichte sein. Sie sei unter den bekannten Shoppingmeilen in Deutschland die Straße, die gerade den meisten Leerstand aufweist, betont Einzelhandelsverbandschef Busch-Petersen. Allerdings dürfte man nicht außer Acht lassen, dass es der Friedrichstraße schon vor den Verkehrsversuchen schlecht gegangen sei „und sie mit strukturellen Problemen zu kämpfen hatte.“
Trotz des wachsenden Onlinehandels und der Pandemie ist dagegen Berlins City West als Einkaufsort wieder attraktiver für Kunden geworden. Im Rahmen einer bundesweiten Vergleichsstudie des Instituts für Handelsforschung Köln (IFH) gaben knapp 35 Prozent der Befragten 2022 an, die Attraktivität von Kudamm und Tauentzien habe sich in den vergangenen Jahren verbessert.
Knapp 45 Prozent attestierten eine gleichbleibende Attraktivität. Doch insbesondere die kaufkräftigen Kunden bevorzugen es auch in der City-West, mit dem eigenen PKW anzureisen. Fast 50 Prozent der Autofahrer gaben pro Besuch über 100 Euro im stationären Handel aus. Bei Radfahrerinnen und Radfahrern waren es nur sechs Prozent.