Sechs Tram-Stationen hinter dem S-Bahnhof Schöneweide sind plötzlich keine bunten Schilder mehr über Döner- Bäcker-, und Friseurläden zu sehen. Niemand drückt den roten Knopf der Straßenbahn, als der Halt „Ostendestraße“ aufleuchtet. Denn wer aussteigt, befindet sich plötzlich in einer Art Niemandsland, das sich entlang einer endlos wirkenden Straße erstreckt.
Ein langgezogener Industrieblock versperrt die Sicht zum eigentlich nahen Spreeufer. Ein Blick durch die hohen wie breiten, mit wildem Graffiti umrahmten Fenster verrät Leerstand und Verfall.
Gründerzentrum der Elektroindustrie
„Ab und zu kommen ein paar kleinere Firmen und mieten sich ein, aber ansonsten ist hier lange nichts passiert“, erzählt eine Anwohnerin, die einsam an der Haltestellte steht. Seit 1959 lebt sie in Oberschöneweide, dem ehemaligen Epizentrum der Berliner Elektroindustrie.
Dass ein privater Investor nun über eine Milliarde Euro in das zu großen Teilen verlassene zehn Hektar große Areal in Treptow-Köpenick investieren und es in ein „Zukunftsquartier für Arbeit und Forschung“ verwandeln will, lässt bei ihr keine Gentrifizierungs-Ängste aufkommen. „Das war doch hier schon immer ein Industriegebiet. Man soll es nehmen, wie es kommt“, sagt die 82-Jährige.
Als sie vor Jahrzehnten ihre Kinder ein paar Straßenzüge weiter aufzog, arbeiteten in Oberschöneweide 25.000 Menschen unter anderem in der Elektro- und Schwerindustrie. Doch die Geschichte von „Elektropolis“, die heute noch an historischen Fabrikmauern und Direktoren-Villen abzulesen ist, reicht sogar mehr als 100 Jahren zurück.
Im Jahre 1897 wurde die 626 Einwohner zählende Gemeinde Oberschöneweide Hauptstandtort der von Emil Rathenau gegründeten „Allgemeinen Elektrizitätsgesellschaft” (AEG). Zahlreiche Unternehmen der Elektro-Großindustrie, wie die Deutschen Nileswerke oder die Nationale Automobilgesellschaft zogen hinterher, machten Oberschöneweide zum größten Industriestandort in Europa und legten das Fundament für Berlin als leuchtende Weltmetropole.
Raum für Labore, Hochschulen und Technologiezentren
An die einstige Leuchtkraft und den Innovationsgeist soll das Projekt „BE-U | Behrens-Ufer“ anknüpfen. Die in Berlin ansässige „DIE Deutsche Immobilien Entwicklungs AG (DIEAG)“ will das rund 100.000 Quadratmeter große Areal mit dem ehemaligen Werk für Fernsehelektronik bis Ende 2027 in ein „offenes und modernes Gewerbestadtquartier für Büronutzungen, Labore, Hochschulen und Technologiezentren" umwandeln. Dazu seien in Absprache mit dem Bezirk Treptow-Köpenick Angebote für Gastronomie, Einzelhandel, Kunst, Kultur und soziale Einrichtungen geplant, heißt es von den Investoren.
Das Behrens-Ufer ist damit das derzeit größte privatwirtschaftlich entwickelte Immobilienprojekt Berlins. Was die DIEAG vorhat, kann man unter anderem an großen Informations-Tafeln an der blätternden Fassade des „Behrens-Baus“ nachlesen. Die eindrucksvolle Stockwerksfabrik, die man von der Optik her auch mit einem herrschaftlichen Berliner Bezirks-Rathaus verwechseln könnte, wurde 1915–1917 vom Industrie-Designer Peter Behrens entworfen und gilt als Wahrzeichen Oberschöneweides.
Das denkmalgeschützte Monument der Industriekultur soll künftig unter anderem Start Ups beherbergen und bleibt wie viele andere der historischen Bauten bestehen.
Geschosshöhen von mehr als 3,60 Meter
„Wir werden den industriellen und vor allem historischen Charme der Gebäude erhalten, das gesamte Quartier aber nach neuesten Nachhaltigkeitsstandards entwickeln und den Mietern sehr flexible Nutzungsmöglichkeiten eröffnen“, erklärt Robert Sprajcar vom DIEAG-Vorstand.
Die solide Substanz der Bestandsgebäude mit Geschosshöhen von teils mehr als 3,60 Meter ermöglichten vielfältige Nutzungen als Büroräume, aber sei genauso für Gastronomie, leichte Produktion, Labore und Forschung geeignet. „Das Interesse ist jetzt sehr groß, sodass man bereits die Halle 5 sowie weitere Teile des Peter-Behrens-Baus reservieren konnten“, berichtet Sprajcar.
Gleich nebenan fressen sich schon die ersten Abrissbagger in die schmucklosen Wände alter DDR-Fabrikhallen. Bis voraussichtlich Ende Mai 2023 sollen insgesamt fünf alte Gebäude, darunter Lagerhallen, Werkstattgebäude und eine Kantine abgetragen werden.
Die ersten Einzüge in Bestands- und Neubauten sollen schon Ende dieses Jahres, sowie Anfang 2024 erfolgen. Neben einem temporären Parkplatz für die ersten Mieter des sogenannten Nord-Karrees soll noch in diesem Jahr ein öffentliches Besucherzentrum mit Uferzugang entstehen, in dem sich Interessierte über die Entwicklungen des künftigen 235.000 Quadratmeter großen Gewerbegebiets informieren können.
Öffentliche Zugänge zum Spreeufer
Auf einer Visualisierung im Internet unter be-u.berlin kann man jetzt schon vom Ist-Zustand in das Jahr 2027 switschen. Die zum Teil undurchlässigen Industrie-Blöcke verwandeln sich virtuell in einzelne auflockernde Quader mit begrünten Terrassen, die auch immer wieder öffentlichen Zugang zum Spreeufer gewähren.
Noch endet die schon vorhandene Uferpromenade an der Wilheminenhofstraße an einem Zaun. Auch in der nachmittäglichen Wintersonne bleibt der Weg an der Spree fast menschenleer. Dabei kann man Richtung Westen bis zu den gelben Klinkerbauten des alten Kabelwerks Oderspree spazieren.
Das wird schon seit 2006 als Campus der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin genutzt. Die Ansiedlung von Berlins größter staatliche Fachhochschule mit 14.000 Studenten und über 500 Beschäftigten hat schon in den vergangenen Jahren dafür gesorgt, dass manches kleine Apartmenthaus zwischen den zum Teil noch unsanierten Mietshäusern hochgezogen wurde. Auch in der noch grauen, trostlosen Oberspreestraße wächst derzeit gerade ein mehrstöckiges Studentenwohnheim in den Himmel.
Nur ein paar Meter weiter ist vor wenigen Jahren das Technologie- und Gründerzentrum mit rund 40 Unternehmen entstanden. Rund die Hälfte der Flächen wird von der HTW unter anderem für den Studiengang Game Design genutzt. Auch das Fremdsprachen- und das Rechenzentrum der Hochschule ist eingezogen, sowie der Bereich der Start-up-Förderung.
Blick nach Berlin-Adlershof
Auf die Mischung aus Forschung, Gründergeist und Produktion setzen auch die Entwickler des Industrieareals. Dass diese Symbiose funktionieren kann, sieht man im prosperierenden Technologiepark weiter südlich in Adlershof, mit dem sich die DIEAG ebenfalls gerne vernetzen würde.
Vogelflugtechnisch liegt Adlershof auch nicht weit entfernt. Doch die Fahrt mit Auto oder Tram dorthin kann locker 20 bis 30 Minuten dauern, da Spree und Bahntrasse die direkten Verbindungen durchschneiden.
Durch seine spezielle Lage ist Oberschöneweide, das eigentlich zum Boom-Korridor Berlin Süd-Ost gehört, nicht wirklich gut an die Innenstadt angebunden. Die Entwickler werben zwar mit 18 Autominuten und 38-S-Bahn-Minuten zum Alexanderplatz sowie zum Flughafen BER. Doch die derzeitige Realität mit zugestauten Straßen und regelmäßigem Schienersatzverkehr kann die Pendlerzeiten auch mal leicht verdoppeln.
Dafür gibt es viel Raum zur Entfaltung. Hinter dem Café, das in das historische Kranhaus am Spreeufer eingezogen ist, wachsen junge Tannen auf sandigem Boden. Um den Firmensitz der First Sensor AG, einem global agierenden Unternehmen für Sensorchips, das sich 1991 mit 22 ehemaligen Ingenieuren aus dem Werk für Fernsehelektronik gründete, erstrecken sich großzügige Wiesenflächen.
Führungen mit Turmbesichtigung
Die erste Elektronenröhrenorgel der Welt, die Mitte der 1950er-Jahre im einstigen Werk für Fernsehelektronik entwickelt wurde, ist dagegen in den „Industriesalon Schöneweide“ umgezogen, eine Art Museum, in dem ein gemeinnütziger Verein das industrielle Erbe vor allem aus DDR-Zeiten bewahren will.
Man findet es in einer der Produktionshallen auf dem Gelände des ehemaligen Transformatorenwerks. Von dort aus starten auch regemäßig Führungen, bei denen Oberschöneweide als historisches Gründerzentrum beleuchtet wird, in dem bedeutende Industrie-, Technik und Architektur-Geschichte geschrieben wurde.
Höhepunkt dabei ist ganz buchstäblich der Besuch des Peter-Behrens-Baus. Nach der Besteigung seines 70 Meter hohen Turms haben die Teilnehmer einen umfassendenBlick über das geschichtsträchtige Industrieareal, das – sanft eingebettet zwischen Wuhlheide und der Spree vor einer spannenden Zukunft steht.
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Führungen durch „Elektropolis“
Die rund zweieinhalbstündigen „Elektropolis“-Führungen durch die Gechichte, Gegenwart und Zukunft des über 100-jährigen Gründerviertels in Schöneweide finden ganzjährig jeden jeden Sonntag um 12 Uhr statt und kosten 12, ermäßigt 8 Euro. Treffpunkt ist der Industriesalon Schöneweide an der Reinbeckstraße 9.
Bis zum 31. März 2023 gibt die gleiche Tour auch am Freitag um 14 Uhr.
Alle Infos unter www.industriesalon.de.