Eine Linke in Westdeutschland, die die seltene Verbindung zur demokratischen Opposition im Ostblock suchte, allen voran zur polnischen Solidarność. Eine Berlinerin, die sich schon in den 1990er-Jahren nach Brandenburg aufmachte und neue Fäden zu den damals fremden bis verrufenen Nachbarn auf der anderen Seite der Oder spann – Ruth Henning ging in vielerlei Hinsicht ungewöhnliche Wege. Sie starb am 17. Dezember 2022 in Berlin. Geboren war sie 1942 in Ostwestfalen.
In ihrem Leben war sie vieles: Studentin, die 1968 auf die Straße ging, Begeisterte und Enttäuschte des maoistischen China, Gewerkschafterin im Berliner AEG-Werk, Solidarność-Bewegte der ersten Stunde. Vieles durchlebte sie gemeinsam mit ihrem Lebenspartner Christian Semler. Die beiden lernten polnisch, fuhren nach Danzig, befreundeten sich mit Solidarność-Aktivisten wie Jacek Kuroń. Als in Volkspolen der Kriegszustand gegen die Bewegung ausgerufen wurde, sorgten sie für Solidarität in der Bundesrepublik, schickten Päckchen mit humanitärer Hilfe nach Polen, schmuggelten Druckmaschinen, halfen Flüchtlingen.

Polnische Nachbarregion als alte Heimat und Terra Inkognita

Die Zeit des Umbruchs in Polen verfolgte Ruth Henning mit eigenen Augen, 1990/91 lebte sie in Warschau, berichtete für die taz. Nach ihrer Rückkehr ließen sie und Christian Semler sich in Ostberlin nieder. Sie gründete die Deutsch-Polnische Gesellschaft Brandenburg mit und prägte als Geschäftsführerin nicht nur über mehr als zwei Jahrzehnte deren Arbeit. Sie sorgte dafür, dass die Brandenburger begriffen, dass die Grenzregion auf der anderen Seite von Oder und Neiße weitergeht. Als Initiatorin von Konferenzen und Diskussionen. Als Redakteurin und Übersetzerin zweisprachiger Publikationen. Als Kommentatorin, Fragenstellerin und als Organisatorin inspirierender Studien- und Entdeckungsreisen und Lotsin quer durch die deutsch-polnische terra incognita auf den Spuren der „alten, neuen, fremden Heimat“ – im alten Brandenburg und im verpflanzten Polen – immer auf der Suche nach Dialog, der funktioniert.
Tiefes Misstrauen – was macht die Krise mit der Beziehung zwischen Deutschland und Polen?
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Frankfurt (Oder)/Küstrin
Sie brachte Kommunalpolitiker, Bewohner, Studierende, Wissenschaftler von links und rechts der Oder zusammen. Sie ließ deutsche und polnische Vertriebene gemeinsam die Frage „Was ist Heimat?“ diskutieren. Und nicht zuletzt führte sie Journalisten beider Seiten ins andere Land und vernetzte sie – im Deutsch-Polnischen Journalistenclub „Unter Stereotypen“, den sie mitgründete und dem sie mit vorstand. Auch Mitarbeitende der Märkischen Oderzeitung begeisterte sie. Dietrich Schröder, langjähriger Korrespondent für deutsch-polnische Nachbarschaft, gehört zu ihren Weggefährten. „Die Journalisten kamen immer mit ihren Storys im Kopf – und Ruth Henning war das neutrale Bindeglied. Es ging ja darum, ein Thema aus beiden Perspektiven zu betrachten“, sagt er. Der inzwischen aufgelöste Club bereitete den Weg zu den Deutsch-Polnischen Medientagen und dem Deutsch-Polnischen Journalistenpreis, die von beiden Staaten finanziert werden.

Ameisenhandel an der Grenze als Illusion

Kritische Fragen und Anmerkungen, manchmal radikal, immer anpackend – so ist sie vielen in Erinnerung. Als der Zoll in Frankfurt (Oder) Mitte der 90er mit einer Razzia übertrieben hart gegen polnische Arbeiter vorging, lud sie vor Ort zu einer Debatte. Zehn Jahre später versetzte sie Studenten der Viadrina bei einer Konferenz zur Oder mit ihrem Zwischenruf in Staunen: „Karl, Du romantisierst die Armut!“ Gemeint war Professor Karl Schlögel, der über den sogenannten Ameisenhandel über die deutsch-polnische Grenze sprach. Ruth Henning neigte nicht zu Illusionen über die deutsch-polnische Versöhnung, auch in den euphorischen Jahren rund um Polens EU-Beitritt. Sie wusste, dass noch viel zu bearbeiten ist, besonders vonseiten der Deutschen. Sie machte sich sehr dafür stark, dass in Brandenburg die polnische Sprache gelernt wird.
Ohne Kenntnis kein Verständnis – dieses Credo ihrer Arbeit manifestierte sich am deutlichsten in den verschiedenen Formaten von „Transodra“, dem markantesten und langlebigsten Einsatz der Deutsch-Polnischen Gesellschaft Brandenburg für den Dialog. Zunächst waren das gedruckte Publikationen mit jeweils in die andere Sprache übersetzten Zeitungsartikeln aus beiden Ländern. Am breitesten wahrgenommen wurde die letzte gedruckte Ausgabe 2001, die die Jedwabne-Debatte in Polen deutschen Rezipienten dokumentierte – also die Auseinandersetzung mit der Beteiligung von Polen am Holocaust. Danach wanderte Transodra ins Internet und erschien zeitweise als wöchentliche zweisprachige Presseschau aus der Grenzregion. Es gelang nicht, sie unabhängig von Projektförderung zu etablieren. Die Website transodra-online.net besteht als Archiv fort und bildet einen wertvollen Wissensschatz für die deutsch-polnische Grenzregion der letzten 30 Jahre.
Die Trauerfeier mit anschließender Beisetzung findet am 30. Januar um 12 Uhr in Berlin auf dem Georgen-Parochial-Friedhof I in der Greifswalder Straße 229/331 in Berlin statt.