Das Gesicht, das sich aus einem Geflecht von rotbraunen Linien herauskristallisiert, ist – aus des Betrachters Sicht – nach rechts gewendet. Der Mann blickt auf. Seine Augen aber, sind sie geschlossen? Die Mundwinkel nach unten gezogen, das Nasenbein durch kräftige Striche verdichtet, ähnlich die Partie an der Wange und am Halsansatz.
Es ist das Antlitz eines Menschen, der im Alter auf ein erfahrungsreiches Leben zurückschaut. Und sich vielleicht auch noch einmal seiner Kindheit erinnert, als er als Neunjähriger mit ansehen muss, wie seine noch kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges zur Festung erklärte Geburtsstadt Fürstenwalde in Schutt und Asche gelegt wird. "Selbst" ist der schlichte Titel der Lithografie, die Gerhard Wienckowski (1935–2011) im Jahre 1990 geschaffen hat.
Zu sehen ist sie derzeit in der Kunstgalerie Altes Rathaus in Fürstenwalde. Für die Retrospektive hat seine Witwe Wilma Wienckowski zusammen mit Galerie-Leiter Christian Köckeritz und -Mitarbeiter Daniel Becker 55 Lithografien, Aquarelle, Radierungen und Tuschezeichnungen, die zwischen 1967 und 2008 entstanden, ausgewählt. Es ist seit vielen Jahren die erste große Ausstellung in Fürstenwalde mit Werken Wienckowskis, der von 1966 bis zu seinem Tod in Eberswalde lebte.
Landschaften und Köpfe – das sind die großen Bildthemen in Wienckowskis kreativem Schaffen, wie auch die Retrospektive vortrefflich belegt. Obwohl die beiden Sujets sehr verschieden sind, entspringen sie doch einer vergleichbaren Wahrnehmung des Künstlers, die sich in einem sehr eigenen, unverwechselbaren Strich manifestiert. Das zeigt sich besonders in den Aquarellen. Sie wirken, als sehe man durch einen Nebel, durch eine Milchglasscheibe: sanfte Farbklänge, fließende, verschwommene, fast abstrakte Konturen, auf ein Minimum reduziertes Gegenständliches. Nichts auf diesen Bildern kommt plakativ daher. Der diffuse Schleier schafft vielmehr Distanz, er bewahrt Kopf wie Landschaft vor dem unmittelbaren Zugriff.
Den Respekt vor der Natur, vor einem Baum, vor einem Menschen habe er intensiv bei seinem Lehrer an der Dresdener Hochschule für Bildende Künste, dem Maler und Grafiker Hans Theo Richter, erlebt, erzählte Wienckowski einmal. Richter (1902–1969) habe von seinen Studenten gefordert, "sich als Künstler nie in den Vordergrund zu stellen." Und so schuf der zurückhaltende, sensible Wienckowski, der 2006 den Brandenburgischen Kunstpreis der Märkischen Oderzeitung erhielt, seine Bilder in aller Stille, ohne Streben nach öffentlicher Präsentation oder modernistischen Trends. Er folgte seiner eigenen gestalterischen Überzeugung und blieb seinem formalen Empfinden und seinem feinen Farbgespür treu.
Wer vor den von Wienckowski geschaffenen Porträts – ob nun die gezeichneten oder die aquarellierten – verweilt, begibt sich auf eine Entdeckungsreise in die Seele. Nach und nach legen die Gesichter ihr Leben offen, das Freude, noch mehr aber Leid und Schmerz kennt.
Die Köpfe, meist dem Künstler vertraute Menschen, häufig Alte oder Greise, sind auf das Antlitz konzentriert, auf ihm liegt auch die größte Helligkeit. Das Gesicht entwickelt sich aus einem – wenn überhaupt vorhandenen – dunklen, unbestimmbaren Hintergrund. Dabei sind die Köpfe selten frontal erfasst, sondern von rechts oder links, auch mal von schräg unten. Nicht die äußeren Merkmale, die Physiognomie eines Menschen sind dem Künstler wichtig, sondern das Wesen des Porträtierten, dem er sich in einem langwierigen, intimen Arbeitsprozess näherte.
"Man muss teilnehmen am Schicksalhaften", betonte Wienckowski einmal – und meinte damit nicht nur den Menschen, sondern auch die Natur, die Umwelt. Die Landschaften, die er festhält, reichen von Chorin im Oberbarnim, dem uckermärkischen Raum und dem Oderbruch bis zur Ostsee. Doch die Aquarelle sind keine naturalistischen Abbildungen, da gibt es keine topografische Genauigkeit, die Motive lassen sich kaum verorten. Lediglich seine Lithografien und Radierungen tragen einen erkennbaren gegenständlichen Ansatz. Wenige geschwungene Linien deuten Bäume oder Sträucher an und erzeugen so eine stille Dramatik.
Wenn Wienckowski auf vibrierende, schwebende Schwingungen setzt, die Konturen bis zum völligen Verwischen auflöst, die Dingwelt quasi entkörperlicht und nach den inneren Zusammenhängen von Form, Farbe und Welt sucht, rückt ihn das in die Nähe des Romantikers William Turner (1775–1851). Auch der englische Maler, Aquarellist und Zeichner entmaterialisierte die Sujets und machte die Atmosphäre, das Spiel des Lichtes, der Farben, der Hell-Dunkel-Abstufungen zu seinem Thema.
Überhaupt ist eine Art Verwandtschaft Wienckowskis mit der Romantik unverkennbar. Indem er seine einsamen Landschaften in einen Dunst taucht, der für das Nicht-mehr-Greifbare, das Unbegrenzte steht, und indem er zugleich die personelle Existenz des Menschen ausschließt und ihn so mit dessen Endlichkeit konfrontiert, reiht sich der Künstler in die Naturwahrnehmung etwa eines Caspar David Friedrich (1774–1840) ein.
Gewiss nicht von ungefähr. Hat doch Wienckowski in Dresden studiert, in jener Stadt, in der einst Friedrich lange lebte und in der die Epoche der Romantik besonders fruchtbar war. Auch wenn der Brandenburger im Gegensatz zu Friedrich oder auch dessen Freund und Kollegen Carl Gustav Carus (1789–1869) auf Staffagefiguren verzichtete, so fühlte sich Wienckowski wohl doch deren Hinwendung zur inneren Einkehr, dem Verschmelzen von Sinneswahrnehmungen verbunden. Ganz nach Friedrichs Empfehlung: "Schließe dein leibliches Auge, damit du mit dem geistigen Auge siehest dein Bild. Dann fördere zutage, was du im Dunkeln gesehen, daß es zurückwirke auf andere von außen nach innen."
"Gerhard Wienckowski – Retrospektive", bis 18.4., Di–So 13–16 Uhr, ab April bis 17 Uhr, Kunstgalerie Altes Rathaus, Am Markt 1, Fürstenwalde, Tel. 03361 710188