Um eine Sache gleich vorweg zu klären: Regisseur Edward Berger hat seine Neuverfilmung von „Im Westen nichts Neues“ nach dem Roman (1929) von Erich Maria Remarque gewiss nicht als Kommentar zum Krieg in der Ukraine geplant. Die Dreharbeiten für die aufwendige Netflix-Produktion liefen Anfang 2021, mitten in der Corona-Pandemie.
Aber es ist wohl fast unvermeidlich, dass Parallelen zum aktuellen Geschehen im Osten gezogen werden, wenn nächste Woche ein zweieinhalb Stunden langer Film in die Kinos kommt, der das vieltausendfache Sterben an der Front des Ersten Weltkrieges zum Thema hat und verstörend unmittelbar, nüchtern, blutig in Szene setzt.
Das Publikum wird gleich zu Beginn mit der Hölle des Stellungskrieges konfrontiert: Trommelfeuer und Granatentrichter, Schlamm und Dreck in den Schützengräben, minimale Korrekturen des Frontverlaufes um den Preis Hunderter Soldatenleben. Und oft erobert die Gegenseite dasselbe Gelände kurz darauf schon wieder zurück.

Aufreibender Stellungskrieg

In dieses Inferno taumelt eine Gruppe junger Rekruten aus dem Kaiserreich hinein; es sind Schulfreunde, die sich vom hysterischen, pathosgeladenen Werben ihres Direktors und von der allgemeinen Kriegsbegeisterung haben mitreißen lassen. Doch schon bald beginnt auch für einige von ihnen das große Sterben.
Kompromisslos macht Edward Berger den Anachronismus sichtbar, den ein Krieg mit voranstürmender Infanterie in Zeiten von Giftgas, Handgranaten, Kampfflugzeugen und den ersten Panzern darstellt. Die Generäle werfen immer neues Menschenmaterial an die Front. Eine ganze Generation geht vor die Hunde – „bald ist Deutschland leer“, so wird einer der Protagonisten nach einem grausigen Fund sagen.
Dabei versäumt der Film es keineswegs zu zeigen, dass sich der gesamte Erste Weltkrieg eben nicht auf dem Boden des Deutschen Reiches abgespielt hat. Das Leid der französischen Zivilbevölkerung ist im Hintergrund präsent. Die Front rollt über einstige Dörfer, vor und zurück. Untermalt wird all das von der packenden, das Grauen unterstreichenden Musik Volker Bertelmanns, auch bekannt als Hauschka.
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Das Einsammeln der Erkennungsmarken gefallener Frontkämpfer wird in dem Film zu einer Art Leitmotiv ausgearbeitet – eine makabre, bittere Handlung, die die überlebenden Soldaten nach dem Kampf noch einmal an ihre emotionalen Grenzen bringt.

Unverbrauchte Gesichter in den Uniformen

Edward Berger zeigt Nachwuchsdarsteller als Soldaten, manche von ihnen in ihrer ersten wichtigen Filmrolle. Es ist das Rezept, das zuvor schon Wolfgang Petersen für seinen Kriegsfilm „Das Boot“ (1981) erfolgreich einsetzte: Junge, unverbrauchte Gesichter verkörpern mit ihren unterschiedlichen Dialekten einen Querschnitt durch eine Generation deutscher Soldaten.
Die Darsteller hier leisten ebenfalls Großes. Allen voran Felix Kammerer, der den erst 17-jährigen Paul Bäumer spielt. Einen empathiebegabten Teenager, der Hals über Kopf in das grauenhafte Gemetzel stolpert. Und der schnell begreift: Hier wird niemand unschuldig bleiben. Es regiert das Dilemma, entweder zu töten oder getötet zu werden. Weiter geht es nur für den – wenn überhaupt –, der seinen Körper, seinen Geist bedingungslos auf das reine Funktionieren drillt. In Bäumers schreckverzerrtem Gesicht, in seinem kurzatmigen Hecheln wird all das geradezu körperlich erlebbar.
Szenenfoto aus dem Spielfilm "Im Westen nichts Neues" von Edward Berger zeigt den Schhauspieler Felix Kammerer in der Rolle des Paul Bäumer. Der Film geht für Deutschland ins Oscar-Rennen. Das hat eine Jury am 24. in München entschieden, wie German Films, die Auslandsvertretung des deutschen Films, mitteilte. Er soll den Oscar in der Kategorie bester nicht-englischsprachiger Film nach Deutschland holen. Der Film startet am 29. September in den Kinos, ab dem 28. Oktober ist die Netflix-Produktion auf dem Streamingdienst zu sehen.
Szenenfoto aus dem Spielfilm „Im Westen nichts Neues“ von Edward Berger zeigt den Schhauspieler Felix Kammerer in der Rolle des Paul Bäumer. Der Film geht für Deutschland ins Oscar-Rennen. Das hat eine Jury am 24. in München entschieden, wie German Films, die Auslandsvertretung des deutschen Films, mitteilte. Er soll den Oscar in der Kategorie bester nicht-englischsprachiger Film nach Deutschland holen. Der Film startet am 29. September in den Kinos, ab dem 28. Oktober ist die Netflix-Produktion auf dem Streamingdienst zu sehen.
© Foto: Reiner Bajo/Netflix/dpa
Persönliche Begegnungen mit dem Feind im Feld gibt es durchaus – Momente, in denen der Mensch unter der Uniform auch für sein Gegenüber erkennbar wird. Diese kurzen Szenen sind vielleicht die stärksten Momente in einem durchweg beeindruckenden, überwältigenden, in der Wahl seiner Ausdrucksmittel allezeit überzeugenden Kriegsepos.

Ein General wie eine Persiflage

Daneben gibt es einige etablierte Darsteller aus der ersten Riege. Daniel Brühl gibt glaubhaft den schwäbelnden Zentrums-Politiker Matthias Erzberger (1875–1921), der angesichts des Massensterbens um Frieden ringt und für das Kaiserreich den Waffenstillstand von Compiègne unterzeichnet. Devid Striesow spielt eine Rolle, die weit außerhalb seiner Komfortzone liegt – die des halsstarrigen Generals Friedrich mit gezwirbeltem Bart und unerbittlicher Kriegsrhetorik. Sein Auftritt wirkt wie die Persiflage eines preußischen Soldaten alter Schule, der junge Männer ohne Wimpernzucken in den Tod schickt und sich an Werte wie Ehre und Disziplin klammert.
Albrecht Schuch als Stanislaus Katczinsky in einer Szene des Films "Im Westen nichts Neues". Der Netflix-Film kommt am 29.09.2022 in die deutschen Kinos.
Albrecht Schuch als Stanislaus Katczinsky in einer Szene des Films „Im Westen nichts Neues“. Der Netflix-Film kommt am 29.09.2022 in die deutschen Kinos.
© Foto: Reiner Bajo/Netflix/dpa
Größten Respekt verdient Albrecht Schuch, der in der Rolle des älteren Soldaten Stanislaus Katczinsky zu sehen ist. Ein Frontkämpfer mit Brüchen, der Verständnis für die naiv kriegsbegeisterten Neu-Soldaten zeigt. Der alle Illusionen verloren hat, aber dabei nicht zum brutalen Nihilisten geworden ist.

Deutscher Film war Oscarfavorit - doch die Haupttrophäe hat verfehlt

Am Ende hat „Im Westen nichts Neues“ in der Nacht vom 12. März vier Oscars gewonnen, darunter den Preis für den besten internationalen Film. Gewonnen hat der Film von Regisseur Edward Berger auch für Kamera, Szenenbild und Filmmusik. Noch nie in der Geschichte der Oscars hatte ein deutscher Film so viele Trophäen-Chancen wie „Im Westen nichts Neues“. Insgesamt neun Nominierungen gab es, für den „besten Film“ und in den Sparten Internationaler Film, Kamera, Make Up & Hairstyling, Produktionsdesign, Sound, visuelle Effekte, adaptiertes Drehbuch und Musik. In der Oscar-Historie schafften es erst acht nicht-englischsprachige Filme gleichzeitig in die Kategorien „Bester Film“ und „Internationaler Film“.

„Im Westen nichts Neues“, D 2022, 147 Min., Fsk 16, von Edward Berger, mit Felix Kammerer, Albrecht Schuch, Aaron Hilmer, Edin Hasanovic, Devid Striesow, Daniel Brühl; im Kino ab 29. September

Anmerkung der Redaktion: Eine erste Version des Textes erschien bereits am 24. September 2022. Der Text wurde nach der Oscarverleihung am 13. März aktualisiert.

Der Roman einer Generation

Er basiert auf autobiografischen Erfahrungen an der Front, doch ist der Protagonist Paul Bäumer keineswegs mit dem Autor Erich Maria Remarque (1898–1970) zu verwechseln: Der Roman „Im Westen nichts Neues“ schlug 1929 ein und bündelte die Einstellung einer den Krieg ablehnenden Generation. Später verbannten die Nationalsozialisten Remarques Werke aus den Buchhandlungen und Bibliotheken. Schon 1930 wurde der Erfolgsroman erstmals verfilmt – und zwar in Hollywood. Regisseur Lewis Milestone (1898–1930) schuf einen Klassiker des Antikriegsfilm-Genres. Edward Bergers Verfilmung ist der erste deutsche Versuch, den Stoff filmisch zu bändigen. bkr