Frau Schubert, herzlichen Glückwunsch zum Bachmann-Preis! Wie haben Sie Ihren Erfolg in Corona-Zeiten gefeiert?
Helga Schubert: Wir waren nur zu dritt. Mit meinem Mann und meinem Sohn haben wir die Skype-Übertragung aus Klagenfurt angeschaut. Als ich den Preis bekam, habe ich einen Blumenstrauß von meinem Sohn gekriegt, den ich in die Kamera gehalten habe, als die Klagenfurter Bürgermeisterin mir ja keinen geben konnte. Ein kleiner Spaß von mir. Später kam der Tierarzt vom Nachbardorf, geschickt von seiner Frau, und schenkte mir eine Rose. Der Denkmalschützer aus Wismar kam mit Pfingstrosen, auch geschickt von seiner Frau. Meine Nichte brachte Champagner. Aber gefeiert wurde nicht, weil die ganze Zeit das Telefon geklingelt hat.
Nun ist das Wettlesen in Klagenfurt weiß Gott kein Nachwuchswettbewerb. Trotzdem ist es eher ungewöhnlich, mit 80 Jahren daran teilzunehmen.
Ich habe zunächst nicht an mein Alter gedacht. Für mich ist das Alter kein Problem. Ich will ja keinen Marathonlauf gewinnen, ich will eine Erzählung lesen. Wenn Anton Tschechow teilnehmen würde, der wäre jetzt 160 Jahre alt, käme er mir jünger vor als so mancher andere Teilnehmer. Literatur ist nicht altersabhängig.
Sie sind 1980 schon einmal zum Wettbewerb eingeladen worden, durften aber aus der DDR nicht ausreisen.
Weil ich nicht vor Marcel-Reich Ranicki vortanzen durfte, der damals Vorsitzender der Jury war. Der sei ein berüchtigter Antikommunist, steht in der Staatssicherheitsakte über mich, und gehe von einer "deutschen Literatur" aus. Die aber gebe es nicht. Es gebe nur die der DDR, westdeutsche, die aus Österreich und der Schweiz. Ich sollte absagen. Das habe ich aber nicht gemacht. Ich habe geschrieben, es sei mir verboten worden.
Wäre Ihr Leben anders verlaufen, wenn Sie den Preis damals gewonnen hätten?
Ja, ich hätte mehr Selbstbewusstsein gegenüber den Behörden gehabt. Ich habe mich einschüchtern lassen. Als ich den Fallada-Preis bekommen habe, durfte ich wieder nicht ausreisen, weil Erich Loest Vorjahrespreisträger war und die Laudatio halten sollte, der in der DDR im Gefängnis gewesen war. Ich sollte ablehnen und habe erneut gesagt, ich stehe unter juristischem Druck und kann den Preis nicht annehmen. Zehn Jahre später haben sie in mir dann doch verliehen.
Sie sind mehrmals angeeckt.
Für mein zweites Buch "Das verbotene Zimmer" habe ich keine Druckgenehmigung erhalten. Das muss so 1982 gewesen sein. Da sagte die DDR-Lektorin, es sei alles "ausgekotzt", was ich über die Partei sage. Und der Cheflektor Gegenwartsliteratur hat gesagt, ich soll mit dem Schreiben aufhören, es sei alles "Analphabetismus". Eine irrsinnige Situation für eine Schriftstellerin. Mein Mann war Professor an der Universität, mein Sohn studierte Forstwirtschaft in Raben Steinfeld. Ich habe gedacht, wenn ich mich sehr renitent benehme, wären die alle ihren Job los. In meiner Staatsicherheits-Akte steht, dass ich feindlich-negativ bin. Wenn sie den Fallada-Preis annimmt, kann sie gleich im Westen bleiben, hatte mir die Kulturabteilung des ZK der SED ausrichten lassen.Dann wäre mir das so wie Wolf Biermann gegangen. Und das wollte ich nicht, dass ich mich von meiner Familie trenne. Ich war seit 1976 in zweiter Ehe verheiratet, ich liebte diesen Mann, sollte ich jetzt in den Westen …
Als Jurorin ließ man Sie später (1987 bis 1990) dann doch nach Klagenfurt.
Weil Marcel-Reich-Ranicki nicht mehr Sprecher der Jury war. Das war für die DDR der Beweis, dass es keine westdeutsche Veranstaltung mehr ist.
Was haben Sie gedacht, als Sie wegen der Covid-19-Pandemie jetzt erneut nicht nach Klagenfurt durften?
Das fand ich sehr gut. Mein Mann ist schwer krank, ich pflege ihn und habe keine Möglichkeit gefunden, ihn eine Woche allein zu lassen. Er wollte nicht ins Krankenhaus, nicht in Kurzzeitpflege und niemand wollte eine Woche hierherkommen. Katheter und Sauerstoff. 30 Tabletten täglich. Das ist sehr kompliziert. Die Entscheidung, den Wettbewerb digital stattfinden zu lassen, habe ich unheimlich begrüßt. Das war die einzige Möglichkeit für mich, daran teilzunehmen.
Sie mussten sich für die Fernseh-Aufzeichnung in Ihrem Garten ein iPad schicken lassen und haben sogar den An-Knopf gefunden.
Das mussten wir selbst zusammenbauen mit Stativ und so weiter. Wir mussten wegen des Datenschutzes eine Einverständniserklärung unterschreiben, weil die Techniker in Klagenfurt es aus der Ferne lenken konnten. Ich habe es abends ausgeschaltet und morgens stand "Hallo Helga" drauf. Es steht noch vor mir, aber wir haben einen Brief bekommen, dass wir es zurückschicken müssen. Da hat mir mein Sohn nun heute mein erstes eigenes geschenkt.
Das ORF soll an der Mecklenburgischen Idylle verzweifelt sein?
Ich habe mir beim Lesen meines Textes sehr viel Mühe gegeben, keinen Hustenanfall gekriegt, und auch die Regenwolken sind vorbeigezogen. Alle guckten mich zufrieden an. Bis die Kamerafrau die Kopfhörer abnahm und sagte, da ist eine Säge drauf, wir müssen das noch mal machen. Also gut. Ich habe gerade zwei Sätze gelesen, da fangen der Traktor vom Bauer gegenüber und eine Motorsäge an. Gestern hat er Tauben geschlachtet, heute wird Holz gemacht. So ist das eben auf dem Land. Also haben wir doch die erste Fassung genommen. Das erste Mal ist eh immer das beste Mal, sagte der Kameramann da.
In Ihrem eindringlichen Text "Vom Aufstehen" geht es um eine Mutter-Tochter-Beziehung. Um Alter, Versöhnlichkeit und Liebe. Obwohl sich die Erzählung nah an Ihrem eigenen Leben bewegt, wollen Sie sie nicht autobiografisch nennen. Muss gute Literatur nicht autobiografisch sein?
Kann ich eigentlich nur mit "Ja" beantworten. Man kann nur das eigene Erleben überzeugend kondensieren. Eine Autobiografie ist etwas anderes. Ich habe keine Autobiografie geschrieben, sondern einen streng gebauten Text. Die Geschichte muss etwas von einem Menschen erzählen.
"Gott verlangt von uns nicht, dass wir unsere Eltern lieben. Wir brauchen Sie nur zu ehren", heißt es an einer Stelle. Wie lange brauchten Sie in ihrem Leben, um zu dieser Erkenntnis zu kommen?
Bis ich 71 war. Ich habe wirklich gedacht, das vierte Gebot lautet, Du sollst Vater und Mutter lieben und hatte immer ein schlechtes Gewissen. Dieses ganze Mutter-Thema war immer so unheilschwanger, und ich fragte mich, warum ich sie nicht lieben kann. Es hat mich erlöst, als ich gemerkt habe, Respekt reicht. Respekt ist etwas, das kann man sich vornehmen, das kann man sich erarbeiten, Liebe nicht. In Bezug auf Männer oder auf ein Kind wusste ich natürlich, dass man nicht gezwungen werden kann zu lieben. Aber in Bezug auf die Mutter …
Als Psychologin können Sie solchen Wahrheiten ins Auge schauen. Wann und warum haben Sie entschlossen, keine Ehepartner mehr zu beraten oder Gesprächstherapeuten auszubilden, sondern freie Schriftstellerin zu werden?
1987 habe ich aufgehört als Psychologin zu arbeiten, weil ich merkte, ich bin bei dem Spiel mit den Figuren, mit der Sprache freier. In der Therapie habe ich eine sehr große Verantwortung gegenüber den Patienten. Ich muss ihnen folgen und sie respektieren. Beim Schreiben kann ich stärker eingreifen und habe mehr Macht. Ich musste aufhören mit der Therapie, weil ich mir immer mehr Bilder machte. Mir fiel bei Menschen, die zum Beispiel einen Suicid versucht hatten, immer eine Lösung ein. Ich fühle mich sehr geborgen in dieser Welt. Es gibt einen Ausweg. Beim Schreiben darf ich das alles ausdrücken.
2008 sind Sie aus Berlin nach Neu Meteln gezogen, bekannt als Künstlerkolonie Drispeth, wo in den 1970er Jahren Christa und Gerhard Wolf, Joachim Seyppel, Thomas Nicolaou und Werner Lindemann lebten.
Christa Wolf sagte, dass das Haus gegenüber ihrem frei geworden sei. Also borgte ich mir die 6000 Mark dafür von Sarah Kirsch. Ab 1975 bauten wir das Haus aus und verbrachten unsere Ferien hier. 1983 brannte es ab, weil das Haus von Christa und Gerhard Wolf abbrannte. Wolfs sind weg, und wir bauten unser Haus wieder auf.
Fühlen Sie sich dort nicht manchmal wie die letzten Mohikaner?
Überhaupt nicht. Über den Operativvorgang "Siedlung" existiert ein ganzer Schrank voll Akten. Nicolaou war ein Lockspitzel der Staatssicherheit. Der ist mit seiner Frau nach Griechenland gezogen, sie sollen beide tot sein. Ich denke, sie wollten der Strafverfolgung entkommen. Er hat ja dafür gesorgt, dass Leute im Zuchthaus im Wasser standen.
Dann trauern Sie dem subversiven Geist nicht nach?
Überhaupt nicht! Das ist kein subversiver Geist gewesen. Das ist ein Märchen. Junge Frauen in langen Kleidern legten Kornblumen ab auf der Türschwelle von Christa Wolf und bekamen "Spontanheilungen", weil sie ihre Aura spürten. Ein Theater wird darüber gemacht. Es sei eine andere Welt und hier wird Utopisches gedacht. Blödsinn! Das waren SED-Leute. Christa Wolf war ZK-Kandidatin und hat für den Sicherheitsdienst gearbeitet. Was soll daran romantisch sein? Das wird überhöht. "Künstlerkolonie". Wir haben hier gearbeitet. Außerdem waren mein Mann und ich viel in Berlin und deswegen nicht Teil davon. Wir fühlten uns mehr zu Naturwissenschaftlern hingezogen. Unsere Freunde sind Ärzte und Physiker, Theologen gewesen. Von Christa Wolf habe ich mich in den 80ern distanziert und ihr das auch gesagt. Ich war nicht die richtige "Jüngerin" für sie.
1989/90 waren Sie Sprecherin des Zentralen Runden Tisches in Berlin. Wäre es eine Option für Sie gewesen, in der Politik zu bleiben?
Es war kurzzeitig eine Option. Als Parteilose fragte mich die CDU-Gruppe Berlin-Mitte/ Prenzlauer Berg, ob ich nicht ihre Kandidatin werden wolle. Ich dachte für die Bundesversammlung, um den Bundespräsidenten zu wählen. Als ich hinkam, sagten sie, ich soll gegen Wolfgang Thierse und Stefan Heym antreten. Ich habe "Ja" gesagt. Aber nach zwei Tagen zog ich die Zusage zurück. Da rief mich Angela Merkel an, die mich von Gruppensitzungen kannte, und sagte, sie könne sich bei mir alles Mögliche vorstellen, aber nicht, dass ich in die Politik gehe.
In Ihren Büchern geht es um mutige Frauen, die Generation der Kriegskinder und um das Unrecht im NS-Staat und in der DDR. Die meisten Titel sind nur noch digital lieferbar. Wird es jetzt nach dem Bachmann-Preis Neuauflagen geben?
Ich habe meine Rechte von den Verlagen zurückgefordert, bei denen auch Christa Wolf war. Das war sehr selbstschädigend. Der Aufbau-Verlag hat nach dem Preis schon angerufen. Aber ich werde mich jetzt vernünftig verhalten, mit der Literatur-Agentur Karin Graf zusammenarbeiten und keine affektiven Entscheidungen treffen wie vor 20 Jahren. Auch ein Band mit neuen Erzählungen soll erscheinen. Die Texte existieren schon.
Zur Person
Ihr Vater starb 1941 als Soldat. Helga Schubert wuchs bei der Mutter auf, wegen der Bombenangriffe nach Hinterpommern evakuiert, dann nach Greifswald und von dort nach Berlin zu den Großeltern in Ostberlin geflohen. Aufgewachsen in der sowjetisch besetzten Zone und dann in der DDR. Abitur 1957, ein Jahr Montiererin am Band, 1958-63 Studium der klinischen Psychologie an der Humboldt-Uni Berlin.
1963 bis 1987 Arbeit in der Erwachsenen-Psychotherapie. Gleichzeitig seit 1977 freiberufliche Schriftstellerin. Seit dem 20. Lebensjahr bis heute immer geschrieben. 1976 bis 1989 Beobachtung durch DDR-Staatssicherheitsdienst. Am Ende der DDR 1989-90 Wahl Pressesprecherin des Zentralen Runden Tischs zur Vorbereitung der ersten freien Wahl 1990.
Seit 1976 mit dem Psychologen, Maler und Schriftsteller Johannes Helm verheiratet. Nachdem sie bis 2008 in Berlin lebten, zogen sie nach Neu Meteln in Nordwestmecklenburg und eröffneten dort eine Galerie. red