Schon von Weitem sind die Klänge durch den Hangelsberger Forst hörbar. Mit jedem Schritt durch die kniehohen Sträucher werden sie klarer. Sanftes Flötengezwitscher. Das lange Raunen einer Trompete. Und plötzlich, aus ganz anderer Richtung, der dumpfe Ruf einer Tuba. Erst die Reflexion der Sonne an ihren metallenen Instrumenten gibt die dazugehörigen Musikerinnen und Musiker preis, so gut liegen sie im dichten Gestrüpp versteckt.
„Unless (For the air…)“ hat der in Berlin lebende amerikanische Künstler Ari Benjamin Meyers seine Komposition getauft. Vier Musikstücke, geschrieben für Bäume, Boden, Vögel und die Luft. Die vom Ensemble Apparat und Freunden vorgetragene Musik ist eines von sieben Stücken der „Shared Landscapes“, mit denen die Berliner Festspiele Kunst in die brandenburgische Natur tragen.

Sieben Stunden Kunst im Wald vor den Toren Berlins

„Zwischen interaktiven Arbeiten und frontalem Theater“ verortet Stefan Kaegi das Projekt. „Hauptdarsteller ist der Wald.“ Der Regisseur, bekannt aus dem Dokumentartheaterkollektiv Rimini Protokoll, hat den Reigen aus künstlerischen Interventionen, Kompositionen, Choreografien und Theaterinszenierungen zusammen mit Caroline Barneaud kuratiert. Herausgekommen ist ein rund siebenstündiger, kunstreicher Spaziergang durch die Waldlandschaft vor den Toren Berlins.
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Was die Besucherinnen und Besucher – ausgestattet mit einer Karte – dort erleben, ist nicht nur ein Zurück zu den Wurzeln. „Theater kommt ursprünglich von draußen“, sagt Stefan Kaegi. Doch die „Shared Landscapes“ sind keine bloße Freiluft-Veranstaltung, sie fragen vielmehr nach der Beziehung zwischen Mensch und Natur. Kunst mag die Natur nachahmen, sei es in Form von Landschaftsmalerei oder Bühnenbilder. Doch was ist, wenn sie es uns ermöglicht, Natur wirklich zu erleben?

Mit Kopfhören liegt das Publikum auf dem Waldboden

Kaegi lädt in seinem Stück die Teilnehmenden dazu ein, sich auf den Waldboden zu legen. In einem Stück des Hangelsberger Forsts, in dem die Natur frei von Holznutzung sich selbst überlassen ist, können sie den Blick gen Baumkronen schweifen lassen. Mit Kopfhörern lauschen sie einer Gesprächscollage. Ein Förster erzählt darin von den Spuren der DDR im Wald. Eine brasilianische Sängerin, den Regenwald ihres Heimatlandes gewohnt, wundert sich über die Grüntöne in den Wäldern Brandenburgs. Eine Meteorologin erzählt von den Ängsten, die sie im Wald begleiten – seien es Zecken, Mücken oder Allergien. Verschiedene Perspektiven auf die Natur, doch umgeben von Kiefer und Eiche teilen sie sich eine enorme Unmittelbarkeit.
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Etwas tiefer im Wald präsentieren auch die türkisch-belgische Künstlerin Begüm Erciyas und der deutsche Filmemacher Daniel Kötter neue Perspektiven. Per VR-Brillen laden sie zur vertikalen Erkundung über die rund 25 Meter hohen Baumkronen ein. Unter ihren Füßen eröffnet sich den Betrachtenden ein Wald frei von menschlichen Spuren. Ein Niemandsland, voller neuer Möglichkeiten.
Die türkisch-belgische Küsntlerin Begüm Erciyas und der deutsche Filmemacher Daniel Kötter lassen mit VR-Brillen die vertikale Dimension des Waldes entdecken.
Die türkisch-belgische Küsntlerin Begüm Erciyas und der deutsche Filmemacher Daniel Kötter lassen mit VR-Brillen die vertikale Dimension des Waldes entdecken.
© Foto: Michael Heider

Als Teil von „Performing Landscape“ gastiert das Projekt auch in anderen Ländern

Die Stücke sind Teil der bereits dritten Version der „Shared Landscapes“. Unter dem Schirm des von der Europäischen Union mitfinanzierten Projekts „Performing Landscape“ gastierten sie zuvor in Lausanne und Avignon. Im nächsten Jahr stehen zudem Stationen in Österreich, Italien, Portugal, Slowenien und Spanien auf dem Programm. Getauscht werden allerdings nicht nur die Zikaden der Provence gegen die vielen Mücken Brandenburgs. Auch inhaltlich weisen die Versionen ortsspezifische Merkmale auf. War es in Avignon noch der obligatorische Weinbauer, der eine Rolle in Émilie Roussets theatralischer Inszenierung übernommen hatte, ist es im Hangelsberger Forst ein lokaler Heubauer.
Die Berliner Festspiele holen mit "Shared Landscapes" das Theater in die Natur: Schauspielerin Brigitte Cuvelier bei Proben zu einem Stück der französischen Regisseurin Émilie Rousset.
Die Berliner Festspiele holen mit „Shared Landscapes“ das Theater in die Natur: Schauspielerin Brigitte Cuvelier bei Proben zu einem Stück der französischen Regisseurin Émilie Rousset.
© Foto: Michael Heider
Ob dem lokalen Landwirt aber auch lokale Gäste als Publikum zuhören oder doch vermehrt der klassische Berliner Theaterbesucher auf Tagesausflug, bleibt abzuwarten. Stefan Kaegi jedenfalls war aktiv mit Flyer unter den Anwohnerinnen und Anwohnern im Hangelsberger Forst für das Kunstprojekt. „Ich hoffe, es durchmischt sich gut“, sagt der „Shared Landscapes“-Kurator.
Doch egal ob Stadt- oder Landbewohner – beide dürften nach den sieben Stunden „Shared Landscapes“ nicht nur um einige Mückenstiche, sondern auch um einen neuen Blick auf die Natur reicher sein. Mindestens jedoch um ein intensives Erlebnis, das man in wohltemperierten Theater- und Konzertsälen lange vergeblich suchen dürfte.

„Shared Landscapes“ – Termine und Karten

„Shared Landscapes“ findet zwischen 19. August und 10. September 2023 jeweils sonnabends und sonntags ab 13 Uhr statt.
Die Dauer des Rundgangs beträgt rund sieben Stunden (inkl. Pausen).
Treffpunkt für Besucherinnen und Besucher ist die Waldschule Hangelsberg, Heidegarten 1, Grünheide (Mark); Anreise über Bahnhof Hangelsberg (RE1).
Weitere Infos und Tickets unter www.berlinerfestspiele.de