Dirk Oschmann hat einen Nerv getroffen. Sein Buch „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ ist wenige Tage nach seinem Erscheinen schon in der vierten Auflage, die fünfte ist in Planung. In Zeitungen, Portalen und Sendern kocht die Debatte über das Verhältnis zwischen dem Westen und dem Osten Deutschlands, über Fremdheit, Vorurteile, Benachteiligung, Unverständnis und Desinteresse. Wieder einmal.
Oschmann selbst, 1967 geboren in Gotha, heute Literaturprofessor in Leipzig, scheint darüber erstaunt. „Eigentlich kann ich es nicht erklären, weil es diese Debatte ja schon länger gibt, es gibt viele Bücher über den Osten“, sagte der Germanist vor einigen Tagen dem SWR. „Ich sage im Grunde der Sache nach kaum etwas Neues, aber ich sag’s ein bisschen anders.“ Und zwar so: „Ich sag’s polemischer, ich sag’s streitbarer, ich sag’s direkter und auch ungeschützter.“

Zuspitzung statt Differenzierung

Tatsächlich ist sein Buch eine Wutrede aus „dem Osten“ über „den Westen“. Diese Pauschalisierung nutzt Oschmann bewusst: „Statt auf Differenzierung und Relativierung setze ich auf Zuspitzung, Schematisierung und personifizierende Kollektivsprechweise, damit etwas klar erkannt werden kann, was sonst bestenfalls unscharf, wenn nicht gar unsichtbar bleibt.“
Zentrale These ist, dass der Westen seit der deutschen Vereinigung 1990 den Diskurs beherrscht, sich selbst als Norm setzt und den Osten als Abweichung verunglimpft – „zynisch, herablassend, selbstgefällig, ahistorisch und selbstgerecht“, wie Oschmann schreibt. „Der Osten erscheint als Geschwür am Körper des Westens, das ihm dauerhaft Schmerzen bereitet und das er nicht wieder loswird.“
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Besonders verzerrt ist für den Autor das Bild des „Ossis“, also des ostdeutschen Mannes: „Verklemmt soll er sein, verdruckst, schwach, feige, hässlich, dumm, faul, unartikuliert, verhaltensauffällig, radikal, unfähig, fremdenfeindlich, chauvinistisch und natürlich ein Nazi.“
In diesem Grundton streift Oschmann die sehr realen Probleme der überstürzten Vereinigung beider deutscher Staaten 1990 – oder vielmehr des Beitritts der früheren DDR nach Artikel 23 des westdeutschen Grundgesetzes: das plötzliche Überstülpen aller Regeln und Vorgaben der alten Bundesrepublik; die damit verbundene Entsendung Westdeutscher mit „Buschzulage“ in die Chefsessel der ostdeutschen Verwaltung, Firmen, Gerichte und Hochschulen; das daher rührende Überlegenheitsgefühl vieler Westdeutscher; die Ignoranz gegen ostdeutsche Traditionen, Werte, Errungenschaften.

Den Zeitgeist getroffen

Neu ist das tatsächlich nicht. Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk hat alles in seinem Buch „Die Übernahme“ 2019 umfassend beleuchtet. Über Oschmanns Text sagt Kowalczuk: „Da steht nichts drin, was in den Debatten der letzten Jahre nicht schon unentwegt gesagt wurde.“ Kowalczuk will das aber ausdrücklich nicht als Grundsatzkritik an Oschmann verstanden wissen. Er begrüßt, dass sich ein anderer Ostdeutscher nun so prominent zu Wort meldet. Nur wundert sich Kowalczuk, dass ausgerechnet jetzt diese Debatte zündet: „Es kann sein, dass sein Ton, sein anklagender Ton, mehr den Zeitgeist trifft.“
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Oschmann erinnert auch an die wirtschaftliche Schieflage im Land – die traumatische Erfahrung mit Jobverlusten, die dauerhaft niedrigeren Löhne und Rentenwerte. Weniger Vermögen, weniger Rücklagen, weniger Spielräume, das bedeutet aus seiner Sicht auch weniger Teilhabe, Mitsprache und Einfluss. Nach wie vor haben Ostdeutsche nur einen Bruchteil der maßgeblichen Positionen in Politik, Wirtschaft oder Wissenschaft.
Eine repräsentative Demokratie ohne Repräsentation sei nun mal keine, schreibt Oschmann. „Dem Osten unter diesen Prämissen ,Demokratiefeindlichkeit‘ vorzuwerfen, ist nicht nur zynisch, sondern folgt obendrein einem seit Jahrhunderten eingeführten Herrschafts- und Diskursmuster, mit dem der westliche Kolonialismus verschiedener Couleur seine Hegemonie zu begründen sucht“. Das sitzt.

„Der Westen“ - eine ostdeutsche Erfindung?

Doch bleiben Fragen: Stimmt die Ausgangsthese „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“? Oder steht hier Klischee gegen Klischee? Oschmann beschreibt sein eigenes Aufwachsen in Thüringen „mit dem Westen“, mit der Musik, den Levi’s, den Sportidolen, Westpaketen. Es gab lange vor dem Ende der DDR diesen Blick nach Westdeutschland als Maßstab. Schwächen, Widersprüche und das innere Hadern der schon vor 1989 alles andere als perfekten Bundesrepublik traten zurück. „Der Westen“ ist also vielleicht genauso eine ostdeutsche Erfindung wie umgekehrt.
Aber was bringt es, sich gegenseitig Pauschalurteile noch einmal um die Ohren zu hauen? Und warum jetzt, nach drei Jahrzehnten, wenn Nachgeborene den bitteren Ballast vielleicht irgendwann abwerfen könnten?
Paula Piechotta ist 1986 in Gera geboren, heute Fachärztin für Radiologie und Leipziger Bundestagsabgeordnete der Grünen. Sie teile nicht alle von Oschmanns Thesen, sagt Piechotta. Sie nennt sein Buch eine „Wutrede mit dem Vorschlaghammer“. Und doch hält sie die Debatte für wichtig.

„Es hat sich viel Frust aufgebaut“

Zum einen habe sich nach der scharfen Kritik an Pegida 2015 das Gefühl aufgebaut, den Osten verteidigen zu müssen – selbst bei Menschen, denen das Ostdeutschsein bis dahin gar nicht so wichtig gewesen sei. Zum anderen stelle sich die Erkenntnis ein, dass die Annäherung nicht automatisch weitergehe, dass es sogar Rückschritte gebe. „Hier hat sich viel Frust aufgebaut“, sagt Piechotta.
Da jetzt viele westdeutsche Führungskräfte der frühen 1990er-Jahre in den Ruhestand gingen und viele Posten nachbesetzt würden, sei der Zeitpunkt richtig. Ostdeutsche müssten jetzt ihre Chance bekommen bei Berufungen in Hochschulen und Behörden, fordert Piechotta. Sie persönlich sei für eine Ostquote. In jedem Fall brauche es „erhöhte Sensibilität, um die Repräsentation von Ostdeutschen zu verbessern, zumindest in den ostdeutschen Ländern, aber eigentlich bundesweit.“

Buch und Lesungen

Dirk Oschmann: „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“, Ullstein, 224 Seiten, 19,99 Euro.
Lesung und Gespräch mit Dirk Oschmann am 16. März, 20 Uhr, im Maschinenhaus der Kulturbrauerei, Schönhauser Allee 36, Berlin-Prenzlauer Berg; Tickets unter www.kesselhaus.net
Weitere Lesungen in Magdeburg (4.4.), Leipzig (11. und 28.4.), Weimar (18.4.) und Michendorf (11.5.)