Seit dem Bekanntwerden der Vorwürfe gegen Rammstein-Sänger Till Lindemann reißen die Proteste nicht ab. Zwei Petitionen mit zusammen rund 100.000 Unterschriften fordern inzwischen die Absage der drei Berlin-Konzerte, die die Band am 15., 16. und 18. Juli im Olympiastadion spielen will. Auch eine Demonstration, die sich gegen die Auftritte richtet, ist inzwischen angemeldet worden.
Abseits geforderter Konzertabsagen wurden aber auch Rufe nach Schutzbereichen für Frauen sowie dem Einsatz von Awareness-Teams laut. Auf den Konzerten der Band in München Mitte Juni kam ein solches bereits zum Einsatz. Auch Bundesfamilienministerin Lisa Paus fordert Änderungen im Konzertbetrieb. „Gerade junge Menschen müssen hier vor Übergriffen besser geschützt werden“, sagte die Grünen-Politikerin der Nachrichtenagentur AFP. Doch wie sieht ein solcher Schutz konkret aus?
Kampf gegen sexualisierte Gewalt und Diskriminierung
Awareness-Arbeit – der englische Begriff meint so viel wie „Bewusstsein“ oder „bewusste Wahrnehmung“ – richtet sich gegen übergriffiges Verhalten, sexualisierte Gewalt und Diskriminierung, häufig im Rahmen besuchsintensiver Veranstaltungen. Ganz neu sind derartige Angebote nicht. Immer mehr Großveranstaltungen setzen auf Ansprechpersonen und Schutzbereiche für Betroffene, sogenannte Safe Spaces. Auf der Fusion gibt es ähnliche Konzepte bereits seit 2014. Und auch das international ausstrahlende Glastonbury Festival in England setzt seit einigen Jahren auf vergleichbare Angebote.
„Im Kern geht es um eine Auseinandersetzung mit den Gewalt- und Machtformen, die dazu führen, dass sich Menschen an Orten wie Konzerten unsicher fühlen“, erklärt Lotti Höfer die Idee hinter Awareness-Arbeit. „Es geht aber auch darum, der Gewalt zu begegnen und Menschen nicht damit alleine zu lassen.“ Die 23-Jährige ist Mitglied von b-aware, einem Kollektiv, das Anlaufpunkt für Awareness-Angebote in Berlin und Umgebung ist.
Nachfrage nach Awareness-Arbeit übersteigt Kapazitäten
Neben dem zwölfköpfigen Kern-Team, das sich um Organisation und Konzepte kümmert, gehören bis zu 200 sogenannte „Schichtis“ zu b-aware. Zusammen begleiten sie Konzerte und Veranstaltungen in Sachen Awareness. Im Einsatz waren sie etwa auf dem 3000Grad Festival, dem Entropie Festival oder Konferenzen wie der re:puplica. Die Nachfrage seitens der Veranstalter sei zuletzt gestiegen, sagt Lotti. So sehr, dass sie die vorhandenen Kapazitäten längst übersteigt. „Wir werden sehr viel gebucht. Und wir müssen sehr viel absagen.“
Auch, weil die Vorbereitung sehr aufwendig sein kann. Bis zu sechs Monate im Voraus bespricht das Kollektiv mit Beteiligten Fragen zum jeweiligen Einsatzort und klärt organisatorische Aspekte. „Wie sind die Schichten aufgeteilt? Wie sieht die Security-Struktur und Einladungspolitik aus?“ Manches ist dabei unabdingbar, meint Lotti: „Der Safe Space ist eine Grundvoraussetzung. Den muss es verpflichtend geben.“ Idealerweise verfügt das Awareness-Team am Abend der Veranstaltung auch über das Hausrecht oder hat zumindest die Möglichkeit, Menschen in Absprache mit Veranstaltenden zu verweisen.
„Wichtig ist es, sichtbar zu sein.“
Um vor Ort erkennbar zu sein, tragen die b-aware-Mitglieder leuchtende Westen. „Wichtig ist es, sichtbar zu sein“, sagt Lotti. Das Angebot soll zudem so niedrigschwellig wie möglich sein. Fast immer gibt es einen eigenen Stand, an den Betroffene kommen können. Flyer, Sticker oder Aushänge machen auf das vorhandene Angebot aufmerksam.
Der Hauptfokus der Awareness-Arbeit liegt auf der Unterstützung Betroffener. Egal, ob es um sexualisierte Grenzüberschreitung geht oder sich jemand in der Masse überfordert fühlt und einfach einen Rückzugsort sucht. „Wir unterstützen auch in psychischen Ausnahmezuständen. Natürlich immer im Rahmen unserer Möglichkeiten“, erklärt Lotti.
Allgemeine Mindeststandards für Awareness-Team gibt es nicht
Situationen, die viel Einfühlungsvermögen erfordern. Wer bei b-aware mitmachen möchte, durchläuft deshalb zunächst einen Grundlagen-Workshop. Neben der Auseinandersetzung mit Macht- und Herrschaftsformen werden die Teilnehmenden dort in etwa in der Gesprächsführung mit theaterpädagogischen Methoden geschult. Mindeststandards, die das Kollektiv selbst setzt. Gesetzliche Vorgaben oder Zertifizierungen mit Blick auf Awareness-Arbeit gibt es indes nicht.
Bevor es so weit ist, braucht es allerdings ein ausreichendes Problembewusstsein. Das sieht Lotti von b-aware noch nicht erreicht. „Allein durch die Sichtbarkeit von Awareness-Teams verändert sich zwar etwas in den Köpfen der Menschen, aber wir sind noch lange nicht da, wo wir sein könnten.“ Zwar würden Konzerte und Partys als Räume der Freiheit und Ekstase dargestellt, für viele Menschen seien sie das aber eben nicht, meint Lotti. „Weil die Freiheit des einen immer auch die Grenze des anderen sein kann.“
Auch Awareness-Arbeit hat ihre Grenzen
Dass die Awareness-Arbeit Grenzen hat, dürfe allerdings nicht vergessen werden, meint Lotti. Entsprechend überrascht war sie, als nach den Vorwürfen gegen Till Lindemann plötzlich vielerorts der Einsatz von Awareness-Teams gefordert wurde. „In solchen Fällen ist es ja nicht nur eine Einzelperson, sondern eine gewaltvolle Struktur. Und an der könnte auch ein Awareness-Team vor Ort nichts ändern“, so ihre nüchterne Einschätzung.
Betroffene können trotzdem auf die Unterstützung von Awareness-Teams setzen. „Unsere wichtigste Aufgabe ist Zuhören. Wir unterstützen die Person, die sich an uns wendet“, betont Lotti. „Und das bedingungslos.“