Auch Tomaten, Ähren oder Fischen gilt Krauss’ fotografisches Interesse. Er arrangiert seine Objekte zu Stillleben vor meist dunklem Hintergrund. Die Bilder wirken melancholisch, gleichzeitig aber scheinen seine Arrangements eine Art versteckter Heiterkeit auszustrahlen. Hier lehnen zwei einsame Erbsenschoten aneinander, als wollten sie einander Halt geben, dort steht eine Gruppe Maisblätter wie in ein vor sich hinplätscherndes Gespräch vertieft.
Für eine Serie von Stilleben wird der 1965 in Ost-Berlin geborene Fotograf in diesem Jahr mit dem Brandenburgischen Kunstpreis in der Kategorie Fotografie ausgezeichnet. Eines der Bilder zeigt eine Zuckerrübe – ein Thema, das Krauss immer wieder beschäftigt. In der Erntezeit leiht er sich einige Exemplare aus und fotografiert sie. Eigentlich müsste man sagen: Er porträtiert sie. "Nur, dass da dann keine Person steht, sondern eine Zucchini", sagt Ingar Krauss lächelnd. "Eine Pflanze hat auch eine Persönlichkeit". Seine Fotografien, auf denen sich die Rübenoberfläche wie Haut zu faltigen Gesichtern formt, bestätigen das. Man ertappt sich bei der Frage: Wer ist diese Rübe? Und was mag sie denken?
Arbeit mit Tageslicht
Krauss führt durch seinen Gemüse-Garten. Neulich stand ihm dort ein Rehbock Auge in Auge gegenüber. Immer wieder war das Tier gekommen, um Mangold zu fressen. Ingar Krauss lächelt. "Das ist nicht wichtig", sagt er leise. Mehrmals sagt er das – nicht nur über Anekdoten aus dem Garten, sondern auch über den Entstehungsprozess seiner Arbeiten.
Wichtig sei das Ergebnis. Um das zu erreichen, fotografiert er Objekte in ausgekleideten Holzkästen – wie auf kleinen Bühnen. Er arbeitet mit Tageslicht, das er mit Spiegeln und Metallplatten lenkt. Krauss fotografiert analog und entwickelt die Bilder selbst. Für seine Abzüge nutzt er mattes Silbergelatinepapier, das er später mit Ölfarbe koloriert. Durch die Lasur erhielten die Bilder Glanz und Tiefe, erklärt er.
Bekannt geworden ist er durch seine Porträtserien von jungen Menschen im Oderbruch. Während er Ende der 1990er-Jahre mit seiner Frau an Haus und Hof baute, fotografierte er die Jugendlichen, denen er begegnete. Entstanden sind eindringliche Porträts, die Menschen auf der Schwelle zum Erwachsenwerden zeigen, meist nachdenklich und in sich gekehrt. Wie Stillleben haben die Bilder etwas Zeitloses.
Über einen Freund, der eine Kommune auf dem Land aufbauen wollte, hatten Krauss und seine Frau das Oderbruch kennengelernt. Eher zufällig landete er dort. Dabei scheint das Oderbruch zu ihm zu passen. Eine schweigsame Gegend, die offen vor einem daliegt und dennoch unergründlich erscheint. Ingar Krauss verliert nicht viele Worte über sich und seine Kunst. Er ist ein Autodidakt, hat sich Handwerk und Ausdruck selbst angeeignet. Mit 16 begann er eine Ausbildung zum KfZ-Schlosser, die seine Mutter organisiert hatte. Eine Chance, die sich nicht jedem bot. "Das war der Traumberuf für jeden jungen Mann. Nur nicht für mich", sagt er.
Während der Armeezeit begann er sich an Theatern zu bewerben und verdiente schließlich als Bühnenarbeiter an der Volksbühne sein Geld. Als er später die Abendschule besuchte, brauchte er einen Job im Schichtbetrieb. Da bot sich die Gelegenheit, als Betreuer in einer psychiatrischen Einrichtung zu arbeiten. Nebenbei malte er und begann sich mit Fotografie zu beschäftigen. "Eine Kamera hatte ich schon mit 14", erzählt er. In den 90er-Jahren intensivierte sich seine Auseinandersetzung mit dem Medium.
Um die Jahrtausendwende organisierten Krauss und seine Frau eine kleine Ausstellung in einer leerstehenden Nachbarwohnung in Berlin. Dazu luden sie einen bekannten Galeristen ein – mit einem Originalabzug als Einladungskarte. Der Galerist kam nicht. Aber als Krauss beim nächsten Mal dessen Ausstellungsraum besuchte, stand die Einladungskarte auf dessen Schreibtisch. Über den Fotografie-Experten kam Krauss zur Kunstmesse Art Forum Berlin, wo er nach New York eingeladen wurde. Dort wiederum wurde eine Mailänderin auf ihn aufmerksam. Durch dieses Ping-Pong-Spiel begannen Krauss’ Bilder ihre Tour um die Welt. Er stellte aus, bekam Stipendien, veröffentlichte Bildbände.
In Russland fotografierte er Jugendliche in Sportvereinen, Ferienlagern und einer Strafkolonie. Er fotografierte Bewohner der italienischen Stadt Reggio Emilia – und für eine Modeserie der italienischen Designer-Schuhmarke Santoni sprach er Menschen auf der Straße an, die er interessant fand. Und dann machte er das, was er immer macht: Bilder, die Menschen in den Mittelpunkt rücken, nicht den Pullover.Vor ein paar Jahren kam er auf die Idee für eine Serie über Wanderarbeiter im Oderbruch. "Wenn die polnischen Erntehelfer nicht wären, gäbe es auch keinen Spargel", sagt Krauss. Er fotografierte sie so, wie sie arbeiteten – in Schürze, offenem Hemd oder mit freiem Oberkörper.
Themen findet Krauss oft nebenbei – wie bei einem Spaziergang mit Freunden im Schwarzwald. Dort interessierten ihn merkwürdige Holzstapel im Wald. Aus der Beschäftigung mit menschlichen Spuren und Ordnungssystemen entstand der 2019 bei Hartmann Books erschienene Band "Hütten Hecken Haufen". Zwei oder drei andere neue Ideen entwickeln sich gerade, aber die behält Krauss für sich. "Das ist noch nicht spruchreif", sagt er lächelnd.