Unglaubliche 1225 Namen mit Adresse und/oder Telefonnummer hat Heartfield in der A5-Kladde mit dem dunkelbraunen Pappeinband vermerkt – von A wie "Akademie der Künste" am Robert-Koch-Platz 7 bis Z wie "Zwinger für Cockerspaniel" in der Moskauer Straße 19 in Woltersdorf bei Berlin im damaligen Kreis Fürstenwalde. Dazwischen finden sich Einträge von Verwandten, Freunden und Künstlerkollegen aus Ost wie West, von Fotolaboren und Druckereien, von Theatern, Verlagen und Buchhandlungen bis zu Kontaktdaten aus der Partei- und Staatsführung der DDR. Neben prominenten Namen wie Johannes R. Becher, Bertolt Brecht, Hanns Eisler, Stefan Heym, Otto Nagel und Konrad Wolf verzeichnet das 186-seitige Büchlein aber auch – gleichberechtigt und auf Augenhöhe – Privates: Friseure und Apotheken, Gärtnereien, Autowerkstätten, Krankenhäuser und Ärzte, Hundepensionen, Veterinärmediziner und eben Schneidereien. Sowie gleich fünf Adressen von Berliner Filmtheatern, etwa vom Babylon am Rosa-Luxemburg-Platz. Denn Heartfield war ein leidenschaftlicher Kinogänger und ein riesiger Fan des britischen Schauspielers Charlie Chaplin.
Das im Archiv der Akademie der Künste Berlin überlieferte Adressbuch des Fotomonteurs, Plakatkünstlers, Grafikers, Bühnenbildners und Buchumschlaggestalters Heartfield benutzte dieser seit seiner Rückkehr aus dem Londoner Exil in die DDR, also zwischen 1950 und seinem Tod im Jahre 1968. Es stammt somit aus einer für viele "Westemigranten" in der DDR überaus problematischen Zeit. Denn anders als den Rückkehrern aus dem "Bruderland" Sowjetunion begegnet die Staatspartei SED denjenigen, die aus einem westlichen Exil heimkehrten, mit reichlich Skepsis hinsichtlich ihrer politischen Zuverlässigkeit. Hinzu kommt ab 1949 der Formalismusstreit. Zahlreichen Künstlern, Literaten, Komponisten und Filmemachern wird unterstellt, sich statt am Sozialistischen Realismus an der westlichen Moderne zu orientieren. Auch Heartfield, der bis 1957 in Leipzig lebt, ehe er nach Berlin umzieht, ist betroffen. Eine 1951 – zu seinem 60. Geburtstag – geplante Einzelausstellung wird abgesagt.
Mit kriminalistischer Akribie
Interessierte Leser können nun selbst in Heartfields Berliner Adressbuch blättern. Der zum Verlag für Berlin-Brandenburg gehörende Quintus-Verlag hat zu jedem Buchstaben-Tab eine Seite reproduziert und diese dann zu einer faszinierenden Lektüre verknüpft, in der es ein Vergnügen ist zu blättern und zu schmökern.
Ein Adressbuch mit lauter Namen, Anschriften, Telefonnummern? Das mag im ersten Moment nach einer ziemlich sperrigen Angelegenheit klingen. Doch das ein solches Buch überaus unterhaltsam, ja, spannend sein kann, ist den beiden Herausgebern Christine Fischer-Defoy und Michael Krejsa zu verdanken.
Die Autorin und Kunsthistorikerin Fischer-Defoy beschäftigt sich seit Jahren mit Adressbüchern, darunter von Walter Benjamin, Hannah Arendt, Marlene Dietrich, Heinrich Mann und Paul Hindemith, und vermochte es, so manches Geheimnis zu lüften. Der Historiker Krejsa wiederum leitet seit 1995 das Archiv Bildende Kunst der Akademie der Künste und ist ein ausgewiesener Heartfield-Kenner. 2013 dokumentierte er in der Reihe "Frankfurter Buntbücher" unter dem Titel "Ein Freund der unbefestigten Wege" jene Zeit, die Heartfield in seinem Sommerhaus in Waldsieversdorf in der Märkischen Schweiz verbrachte.
Mit kriminalistischer Akribie haben die beiden Herausgeber versucht, die Namen und Einträge in Heartfields Adressbuch, das auch seine (dritte) Ehefrau Gertrud, genannt "Tutti", nutzte, zu identifizieren. So gelang es ihnen, das private wie berufliche Netzwerk des Künstlers zu entschlüsseln. Das Ergebnis ist ein vorzüglich kommentierter Atlas seiner Kontakte und Beziehungen.
Zu vielen Daten aus dem Adressbuch finden sich in dem von der Akademie der Künste bewahrten John-Heartfield-Archiv noch unveröffentlichte Korrespondenzen und Fotografien. Fischer-Defoy und Krejsa haben aus dieser Fundgrube reichlich geschöpft und für die vorliegende Publikation 125 Adressaten ausgewählt. Darunter sind große Namen aus Kunst, Theater, Literatur, Film und Politik, aber auch so manche unbekannte aus dem privaten Umfeld. All die biografischen Notizen, Anekdoten, Briefzitate, historischen Hintergründe und Fotos zu den alphabetisch aufgeführten Personen und Einrichtungen zeichnen ein plastisches Bild davon, wie der Meister der politischen Fotomontage in der DDR gelebt und gearbeitet hat, welchen Widrigkeiten er ausgesetzt war, aber auch wer ihm in schwierigen Zeiten beistand. So wird aus der spröden Quelle Adressbuch ein höchst informativer Lesestoff.
Den wohl überraschendsten Eintrag haben Fischer-Defoy und Krejsa unter dem Buchstaben R entdeckt: eine Hamburger Adresse von Claus Rainer Röhl und Ulrike Marie Röhl geb. Meinhof, der späteren Terroristin der Roten Armee Fraktion (RAF). 1961, als Gertrud Heartfield deren Kontaktdaten ins Adressbuch einträgt, arbeitet die Journalistin für das westdeutsche linke Politmagazin "konkret". Sie bittet in einem Brief vom 5. Juni 1960 den Fotomontagekünstler um ein Titelbild für die Zeitschrift – und kündigt in einem weiteren Schreiben vom 1. Dezember an, Heartfield in Berlin persönlich treffen zu wollen. Doch zu einer Zusammenarbeit kommt es nicht. Am 17. Januar 1961 schickt Ulrike Meinhof ein Telegramm nach Ost-Berlin: "AUTOPANNE KOENNEN TERMIN NICHT EINHALTEN = ROEHL – MEINHOF".
Es sind auch solche Episoden, die den Band zu einer vergnüglichen Lektüre machen. Und sogar Hundefreunde interessieren dürfte. Unter dem Eintrag "Anton" beispielsweise verbirgt sich ein Bruder von Heartfields Cockerspaniel Adam. Die Herausgeber vermuten, dass die beiden Herrchen der Vierbeiner Kontakt hielten, um sich über das Wohlbefinden ihrer Hunde auszutauschen.
Unter der Budapester Adresse des ungarischen Kartografen und Widerstandskämpfers Sándor Radó und dessen Frau Helene ist zu erfahren, wie das berühmte Wahlplakat "Fünf Finger hat die Hand" entstand, welches Heartfield 1929 für die KPD gestaltet hatte: Laut Helene Radó, die damals in der Berliner Agitprop-Abteilung arbeitete, habe Heartfield tagelang vor Fabriktoren gestanden, um bei Schichtwechsel Arbeiter zu bitten, deren Hände fotografieren zu dürfen.
Und unter dem Eintrag des heute in Wegendorf bei Altlandsberg lebenden Malers Harald Metzkes ist zu lesen, dass dieser zusammen mit Heartfield, dessen Ehefrau Tutti sowie dem Bildhauer und Zeichner Werner Stötzer 1957 eine dreimonatige Studienreise nach China unternahm. "Sie war für uns alle sehr fruchtbringend", schreibt Heartfield Ende des Jahres dem Maler Otto Nagel, seinerzeit Präsident der Akademie der Künste.
Die Formalismus-Debatte zermürbt Heartfield. Zudem wird sein Gesuch, in die SED aufgenommen zu werden, abgelehnt, ebenso die Aufnahme in die Akademie der Künste. Der "Westemigrant" wird "verräterischer Verbindungen” zu westlichen Geheimdiensten verdächtigt. 1951 erleidet Heartfield einen Herzinfarkt, Ende 1952 einen weiteren. Er muss längere Zeit im Krankenhaus verbringen. Die Journalistin Lilly Becher, Ehefrau des damaligen Akademie-Präsidenten Johannes R. Becher, versichert ihm in einem Brief, dass seine Freunde ihn nicht vergessen und schickt ihm 20 Zitronen –."… es gab grad an diesem Tag welche in der HO". Und die Schauspielerin Helene Weigel versorgt den Kranken mit West-Obst: "Ich hoffe, bald die Bananen und Apfelsinen nach Leipzig rollen lassen zu können."
Auch Helene Weigels Mann Bertolt Brecht ist um Heartfields Gesundheit überaus besorgt. Der Dramatiker schreibt ihm am 8. Dezember 1952 aus seinem Sommerwohnsitz Buckow in der Märkischen Schweiz: "Du solltest dieses absurde Leipziger Klima endlich mit dem berühmt guten hier vertauschen. Wie ist es damit? Sollen wir uns in der Nähe Berlins umschauen?"
Besuch von den Enkelkindern
Auf Anraten Brechts besucht der gesundheitlich schwer angeschlagene Heartfield 1953 die Märkische Schweiz und fühlt sich dort sofort wohl. Bei seinen Ausflügen entdeckt er das nahe Buckow gelegene Waldsieversdorf. 1956 pachtet er ein Grundstück am Ostufer des Großen Däbersees, kauft Teile einer früheren Wehrmachtsbaracke des Strausberger Flugplatzes und lässt daraus in Waldsieversdorf ein Sommerhaus errichten. Die Bauleitung übernimmt Irene Henselmann, Frau des Architekten und Stadtplaners Hermann Henselmann, wie Fischer-Defoy und Krejsa unter dessen Eintrag in Heartfields Adressbuch anführen.
Das Sommerdomizil – seit 2010 Gedenkstätte – wird für Heartfield und seine Frau Gertrud zu einem Refugium. Dort empfangen sie Freunde, Kollegen, Familienangehörige. Auch die in den Niederlanden lebenden Enkel Bob und Jolanda Sondermeijer – Kinder von Eva Herzfeld, Heartfields Tochter aus erster Ehe mit Helene Balzar, und dessen Mann Aad Sondermeijer – verbringen einen Teil ihrer Sommerferien in Waldsiversdorf. Der Großvater baut ihnen ein Kinderhaus, geht mit ihnen spazieren, Pilze sammeln und angeln, fährt mit ihnen Kahn und bringt der fünfjährigen Jolanda das Schwimmen bei. "Er war sehr humorvoll und immer so lebendig", erinnert sich Heartfields Enkeltochter in der kommentierten Edition unter dem Eintrag ihres Vaters Aad Sondermeijer.
Buch: Christine Fischer-Defoy und MichaelKrejsa (Herausgeber): "John Heartfield.Das Berliner Adressbuch 1950–1968", Quintus, 200 Seiten, 18 Euro;Buchpremiere: 14.10., 19 Uhr, Akademie der Künste, Pariser Platz 4, Berlin-Mitte, Kartentel. 030 200571000, www.adk.de