Elli Graetz greift in eine Pappschachtel mit teilweise verblassten, an einigen Ecken angefressenen Fotos. Sie zeigen Frauenporträts aus der Zeit zwischen 1870 und 1900. Stehend oder sitzend, hochgesteckte Frisuren, elegante Kleider: Diese Frauen könnten Romanen Theodor Fontanes entsprungen sein.
Das fand auch die Grafikerin Elli Graetz, als ihr diese Sammlung einer Freundin in die Hände fiel. "Fontane" könne man ja langsam nicht mehr hören, sagt sie lächelnd. Aber seine Frauenfiguren mit all ihren Brüchen und Widerspenstigkeiten fände sie interessant.
Deswegen hat sie ihre Serie, die aus dieser Idee entstand – und für die sie mit dem Brandenburgischen Kunstpreis in der Kategorie Grafik ausgezeichnet wird – "Die Frauen und …" genannt. Die Künstlerin suchte sich Bilder heraus, die ihr besonders gefielen, vergrößerte sie und brachte sie im Siebdruckverfahren auf vorbereitete Blätter.
Einige Teile der Serie hängen in ihrem Atelier im Stechliner Ortsteil Dagow (Oberhavel), wo sie mit ihrem Mann, dem Fotografen Jürgen Graetz, wohnt. Der Großvater ihres Mannes hat dieses Haus mit Seezugang einst gebaut. Im Keller findet sich Jürgen Graetz’ Fotoatelier, im Gartenhaus arbeitet seine Frau.
Dort deutet die Künstlerin auf eine Grafik, die eine junge Frau mit hochgeschlossenem schwarzen Kleid und nachdenklichem Blick zeigt. "Das ist für mich so eine Effi Briest. Die war ja noch ein Kind", sagt sie. Jedes der anonymen Frauenporträts scheint seine persönliche Geschichte zu erzählen.
Verstärkt wird der Eindruck der Hintergründigkeit und Tiefe durch die verschiedenen Schichten, mit denen Elli Graetz arbeitet. Sie verwendet alte Drucke, auf die sie Farbe aufbringt und Ornamente hineinarbeitet, die wie altmodische Tapeten aussehen. Bei ihr kommt nichts weg. Aus früheren Arbeiten und Fundstücken entsteht etwas Neues. "Ich sammle eigentlich alles und versuche, es neu zusammenzusetzen, sodass eine neue Konstellation entsteht", erzählt sie.
Sparsam ist sie nicht nur mit Material, sondern auch mit blumigen Worten. Lange Ausführungen über das eigene Werk liegen ihr nicht, stattdessen lässt sie die Arbeiten lieber für sich sprechen.
Geboren wurde Elli Graetz 1947 in Berlin. Schon früh interessierte sie sich für Kunst. Durch Zufall kam sie nach der Schule als Praktikantin in die Werkstatt der Berliner Staatsoper. In Dresden begann sie, Theatermalerei zu studieren – doch merkte schnell, dass das nichts für sie war.
"Beim Marmor-Kopieren habe ich aufgegeben", erzählt sie und lacht. Sie schlug sich in Berlin mit verschiedenen Jobs durch, führte etwa Gruppen durch das Pergamonmuseum. Schließlich wurde sie an der Kunsthochschule in Berlin-Weißensee aufgenommen und studierte Gebrauchsgrafik. In diesem Bereich arbeitete sie auch nach dem Studium, illustrierte unter anderem Bücher und entwarf Plakate.
Biografisches im Siebdruck
Als freischaffende Künstlerin beschäftigte sie sich viel mit Radierungen. Gerne fertigt sie Holzschnitte, aber auch Linoldrucke, Lithografien und Aquarelle. Später kam noch der Siebdruck dazu. In der neu erlernten Technik arbeitete sie ihre aufwühlende Familiengeschichte in der Serie "Die starken Frauen meiner Familie" auf. Denn im selben Jahr war ihre Mutter gestorben und hatte ihr Briefe und Fotos hinterlassen.
Elli Graetz’ Mutter und deren Schwestern wuchsen in Österreich bei ihrem Vater auf, der Kommunist war. "Sie hatten eine böse Schwiegermutter – wie im Märchen." Früh kamen die Schwestern zum kommunistischen Jugendverband. Die Ältere heiratete einen russischen Ingenieur und durchstand, getrennt von ihren Kindern, sibirische Straflager. Die jüngste Schwester überlebte den Krieg im "Hotel Lux" in Moskau, in dem kommunistische Emigranten einquartiert wurden.
Elli Graetz’ Mutter indes heiratete einen Deutschen in Berlin, wo sie beim Flugblätterverteilen verhaftet wurde und ins Untersuchungsgefängnis Barnimstraße kam. Dort wurde Elli Graetz’ Halbschwester geboren. Nach der Flucht über Prag und Paris wurde sie erneut verhaftet und überlebte das Kriegsende in Bremen. Neben der Geschichte ihrer Mutter verarbeitete Elli Graetz in ihren Siebdrucken auch den Tod ihrer eigenen Tochter, die 1993 auf einem Schiff in Tansania verunglückt ist.
Häufig beschäftigen Elli Graetz in ihrer Arbeit auch literarische Werke. Ein Motiv, dass sich durch ihre Grafiken zieht, sind menschliche Köpfe. Aktuell arbeitet sie an einer Collage, bei der sie aus früheren Drucken menschliche Profile herausschneidet und neu zusammensetzt.
Preisverleihung und Ausstellungseröffnung am 23.6., 12 Uhr, Schloss NeuhardenbergFernsehporträt über Elli Graetz, "Brandenburg aktuell", rbb, Sonnabend, 19.30 Uhr