Er sei im Sommer 1939 als Neunjähriger mit einem Kindertransport nach Melbourne gekommen, als eines von 17 Kindern jüdischer Herkunft. Und sagt dann zu ihr: "Wenn du wirklich was Interessantes machen willst, dann finde die Kinder der Orama."
Und das hat Rücker dann getan. Sie reiste 2017 nach Australien und in die USA, um die Spuren dieser Kinder zu finden. Kinder wie George Dreyfus oder Marion Paul, die gerade noch behütet in Berlin lebten, größtenteils in Familien, die kaum religiös geprägt waren, und dann um die halbe Welt geschickt wurden, um ihr Leben zu retten. Sie kamen in einem fremden Land in einem jüdisch-orthodoxen Kinderheim an, wo sie neue Namen erhielten, ihnen verboten wurde, Deutsch zu sprechen oder ein Dirndl zu tragen. Es war der einzige Transport, den Australien genehmigt hat.
Anfangs wollte Jossi Rücker aus ihren Rechercheergebnissen ein Sachbuch machen. Aber irgendwie schien die Geschichte nicht zwischen zwei Buchdeckel zu passen, erzählt Rücker. Sie quoll heraus, veränderte immer wieder ihre Form – und nach und nach auch die in Wandlitz lebende Künstlerin (Jahrgang 1970).
Sie fing nach den Interviews mit den Zeitzeugen an zu malen, etwas, was sie vorher nie getan hatte, experimentierte mit Audio, Schrift und Bildern. So wurden die "Kinder der Orama" schließlich zu einem raumgreifenden, faszinierenden Ausstellungsprojekt.
Das ist allerdings am Mittwoch vor der Eröffnung längst nicht fertig. In der Galerie Bernau liegt noch haufenweise Material: Fotos, Dokumente, Texte. Rücker kniet auf dem Boden, damit beschäftigt, ein Interview mit Jo Weinreb, einem der Orama-Mädchen, auf Karton zu schreiben. Neben den Interviews und Briefen hat sie in Archiven recherchiert. Wer durch die Galerie geht, bewegt sich zwischen unterschiedlichen Zeitebenen, Lebensgeschichten und künstlerischen Stilmitteln  – eine offene Form, die gut zum Thema passt. Die luftige Installation bedrängt den Betrachter nicht; ohnehin ist klar, dass unter und neben dem, was gezeigt wird, weitere Schichten liegen.
Eigentlich ist es eine Geschichte, die so schrecklich ist, dass man sie am liebsten im Bücherregal zu den historischen Themen packen würde. Rücker ist das Verdrängen schon deswegen nicht gelungen, weil ihre eigenen Kinder im Alter der Orama-Kids sind: 4, 6 und 10. Einige Tafeln für die Ausstellung hat sie mit ihnen gemeinsam gestaltet.
Und weil die Geschichte eben nicht vorbei ist, weder für die noch lebenden Orama-Kinder noch für deren Nachkommen. Die Überlebenden, die in der Mehrzahl ihre Familie nie wiedersahen, verarbeiteten die traumatischen Erlebnissen unterschiedlich. Dreyfus, der mit seinem Bruder auf dem Schiff war, habe ihr in Australien "Türen und Herzen" geöffnet, erzählt Rücker. Und der Sohn von Betty Midalia sagt, seine Mutter sei ein fröhlicher Mensch – sie habe sich vorgenommen, das Böse nicht siegen zu lassen. Andere dagegen berichten von Depressionen, wieder andere weigerten sich, sie, die Deutsche, zu treffen. "Die Kunst des Friedens ist für mich das Hinschauen, auch wenn es weh tut", schreibt Rückert im Begleittext zur Schau, die den Auftakt des Programms der Galerie zu 75 Jahren Weltkriegsende bildet.
George Dreyfus, mittlerweile 91, kommt im April wieder nach Deutschland. Er wird wie jedes Jahr im Wedding Kaffee trinken – und sich dann die Ausstellung ansehen.
"Die Kinder der Orama", Eröffnung heute um 18 Uhr; zu sehen bis 9.4.; Di-Fr 10-18 Uhr, Sa 10-16 Uhr, am 4.4. Gespräch mit George Dreyfus; weitere Veranstaltungen www.galerie-bernau.de