Der Grund für des Dichters Groll: Seine Wohnung in der dritten Etage der Potsdamer Straße 134c liegt nur 200 Meter vom 1850 eröffneten Landwehrkanal entfernt. Dabei dient die Wasserstraße nicht nur der Schifffahrt, sie nimmt auch sämtliche Abwasser der umliegenden Wohngebiete auf. 1886 erklärt er: "Läge mein Haus, statt dreihundert Schritt vom Kanal, auf dem Kreuz- oder Windmühlenberg, so würd’ ich meine Reisekoffer zum Trödler schicken."
Doch weil dies nicht der Fall ist, flüchtet Fontane aus Berlin. Ab 1872 verlässt er die Stadt oft für zwei, drei Monate – und begibt sich auf Sommerfrische. Es zieht ihn mehrfach an die Nord- und Ostsee, in den Harz, ins Riesengebirge, in Kurorte wie Karlsbad und Bad Kissingen, nach Dresden und Bayreuth, ins Mecklenburgische oder eben einfach ins märkische Umland. Hauptsache: Luftveränderung!
Von diesen Ausflügen des Journalisten und Schriftstellers erzählt Bernd W. Seiler in seinem großartigen Buch "Fontanes Sommerfrischen". Dabei verknüpft der Germanist seinen überaus kenntnisreichen und stets an den Quellen orientierten Text mit reichlich Karten- und Bildmaterial – historischem wie aktuellem. Zudem besuchte er alle Sommerfrischen, an denen Fontane weilte, und recherchierte vor Ort, welche Hotels, Pensionen und Restaurants noch stehen und wie sie heute ausschauen.
Meist ist er alleine unterwegs
Fontanes Fahrten erfolgen auf dreierlei Art. Als junger Mann macht er Bildungsreisen, später, als Vater von vier Kindern, hingegen kaum noch. Er unternimmt Arbeitsreisen – etwa für seine "Wanderungen durch die Mark Brandenburg" sowie nach Dänemark und Frankreich für seine Kriegsbücher. Zeitlich am ausgedehntesten sind jedoch seine Reisen in die Sommerfrischen – wobei er meist alleine unterwegs ist.
Denn Emilie weiß, dass ihr Mann auch während der Ausflüge arbeitet – und darauf hat sie keine Lust. Ebenso wenig auf die beengten Quartiere, in denen ihr Gatte logiert. Da spart sie lieber das eh schon karge Geld und bleibt in Berlin. Oder sie fährt mit den Kindern oft wochenlang zu ihrer Freundin Johanna Treutler auf das Gut Neuhof bei Liegnitz, heute Legnica in Polen. Erst im letzten Jahrzehnt ihrer Ehe begleitet sie ihren Mann oder besucht ihn an seinen Urlaubsorten.
Dass das Paar sich wochenlang nicht sieht, ist gewissermaßen ein Segen für die Nachwelt. Denn in den langen Trennungszeiten schreibt Fontane seiner Frau Hunderte Briefe, bisweilen Tag für Tag. In diesen Briefen, die die Basis für Seilers Buch bilden, berichtet er anschaulich, manchmal auch ironisch-sarkastisch über Land und Leute, über Begegnungen mit Freunden, Bekannten und Feriengästen oder auch mal kritisch über die Auswüchse des Fremdenverkehrs wie die horrenden Quartierskosten.
Fontanes Beobachtungen beginnen oft schon mit den Umständen des Reisens in der Eisenbahn, wobei er aus monetären Gründen die Holzklasse wählt. Von einer Fahrt nach Stettin 1863 schreibt er, dass er sich bewusst in ein Abteil für Nichtraucher gesetzt habe, aber die gesamte Zeit einem "penetranten Fischgeruch" ausgesetzt gewesen sei, weil "ein kleiner rotbäckiger pommerscher Junker" aus Berlin Zander mitgenommen hatte, der vier lange Stunde unter der Sitzbank vor sich hin stank.
Bei einer Reise ins Riesengebirge 1888 teilt Fontane sein Abteil ab Lübbenau mit einem Pastor und dessen todkranker Frau – sowie einem "Spucknapf". Die Fenster müssen trotz der Hitze geschlossen bleiben. Der Schriftsteller hat Mitleid mit der an Tbc erkrankten Pfarrersgattin. Doch als ihm "inmitten der süßlichen Miasmen des Lungenauswurfs der schwindsüchtigen Frau" die Luft wegbleibt, verlässt Fontane bereits in Cottbus den Zug.
Seine erste "Sommerfrische" ist ein Aufenthalt auf Usedom im August 1863. Fontane sieht Swinemünde, die Stadt, in der er fünf glückliche Jahre seiner Kindheit verbringt, wieder – und wird enttäuscht: "Es ist alles anders geworden", schreibt er Emilie. Die einst von seinem Vater Louis Henri geführte Apotheke sei nur noch ein "schmieriger Kaufmannsladen". Trotz der Ernüchterung findet Swinemünde Eingang in seinen Roman "Effi Briest" – als hinterpommersche Stadt Kessin. Sieben Jahre vergehen, ehe er erneut an die Ostsee reist: 1870 kommt er mit der Familie nach Warnemünde, 1871 allein.
Im Sommer 1867 besucht Fontane erstmals den Harz und quartiert sich im Hotel Zehnpfund in Thale ein. Er tritt eine "große Partie" durch das Bodetal nach Treseburg an und wird 15 Jahre später in seinem Roman "Cécile" die Thale-Urlauber genau den umgekehrten Weg gehen lassen. Im August 1877 arbeitet er im Hotel Zehnpfund an "Vor dem Sturm", seinem ersten Roman.
Allein zehn Sommerfrischen verbringt Fontane im Riesengebirge. Keine Region scheint ihm besser geeignet, um dem Kanal-Gestank zu entfliehen. Er genießt es, "bei jedem Atemzuge mich erquickende Luft zu atmen". Der Dichter logiert in Erdmannsdorf und Bad Warmbrunn im Hirschberger Tal. In Krummhübel hält er sich 1885 sogar dreieinhalb Monate auf. Und in Schmiedeberg habe er "mehr Personen gesprochen, mehr Konversation gemacht, mehr Fragen berührt, mehr Lob und Freundlichkeit eingeerntet als in Berlin in einem ganzen Jahr", lässt Fontane seine Frau wissen. Hätte er sich nicht als Theaterkritiker an Berlin gebunden, wäre er wohl für immer ins Riesengebirge gezogen.
Zuletzt weilt er in Karlsbad
Aber auch nahe Berlin sucht Fontane Erholung. 1887 weilt er im Seebad Rüdersdorf. Dieses "märkische Nest" mit seinen "Honoratioren" biete ihm eine "Welt von Beobachtungen und kleinen Erlebnissen", eine "wahre Studienmappe behufs Ergründung des Berliner Vorstadt-Bourgeois’", notiert er süffisant. Seine letzte Reise führt Fontane 1898 noch einmal nach Karlsbad. Am 10. September kehrt er zurück nach Berlin, wo er zehn Tage später stirbt. Im letzten Brief an Emilie, verfasst am Tag seines Todes, notiert er: "Man arbeitet am Trapez immer weiter und leistet dasselbe wie andre, aber es fehlt (…) die rechte Freudigkeit weil die Kräfte nicht ausreichen."
Bernd W. Seiler: "Fontanes Sommerfrischen", Quintus, 184 S., 28 Euro