Als sie das Grab im verwunschenen, mit hohem Gras überwachsenen jüdischen Abschnitt des Wiener Zentralfriedhofs, direkt an der Friedhofsmauer, endlich gefunden hat, steht dort: ein Reh. Schaut mit großen braunen Augen, springt dann davon, während sie einen Stein auf dem Grab ihres Urgroßvaters, dem Kommerzialrat Dr. Isidor Geller, ablegt. Gestorben im November 1938. Betrauert von seinen Geschwistern.
Shelly Kupferberg, bekannte Journalistin und Moderatorin bei Deutschlandfunk Kultur und RBB Kultur, hat in ihrem ersten Buch die Geschichte dieses Urgroßvaters recherchiert und erzählt. Israel Geller, geboren in Lokutnis in Galizien, in der Nähe von Lemberg, nennt sich später erst Innozenz oder Ignaz, dann Isidor und macht im Wien der 1920er-Jahre schnell Karriere, bringt es zum Kommerzialrat und wirtschaftlichen Berater des österreichischen Staates. „Ein Emporkömmling, exzentrisch, ein Parvenü, ein Multimillionär, hier und da ein Hochstapler, ein Mann der Tat und von Welt, eigensinnig und voller Stolz“, schreibt Shelly Kupferberg in „Isidor. Ein jüdisches Leben“. Es ist ein steiler Aufstieg – und ein tiefer Fall.
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Vieles hier erinnert an die Geschichten, die etwa Edmund de Waal in „Der Hase mit den Bernsteinaugen“ über seine jüdische Familie in Wien erzählt. Der Aufstieg aus dem Schtetl in die obersten Kreise Wiens, die Liebe zur österreichischen Kultur, im Fall von Isidor Geller speziell zur Oper, das Mäzenatentum, das großbürgerliche Leben in großzügigen Wohnungen, umgeben von Kunst. Isidor Geller genießt den Umgang im Opernkreisen, protegiert eine junge ungarische Sängerin, die dann ihren Weg nach Hollywood macht – und glaubt lange nicht, dass der Antisemitismus, der schon vor dem „Anschluss“ Österreichs 1938 in der Gesellschaft spürbar ist, ihn als etablierten Kommerzialrat betreffen könnte.

Verhaftung, Gefängnis, Folter

Umso brutaler das Erwachen: Schon am 13. März 1938, zwei Tage vor dem „Anschluss“ Österreichs, wird Isidor von der Gestapo verhaftet, ins Gefängnis geworfen, gefoltert, bis er sein Hab und Gut den Nazis überschreibt. Verraten haben ihn sein Chauffeur und seine beiden Hausangestellten, die Aufstellungen der Wertpapiere schon Monate vorher an die Partei weitergereicht hatten. Isidor wird sich vom Schock und den körperlichen Qualen nicht mehr erholen: Er stirbt nur Monate später, am 17. November. Seinem Neffen, Shelly Kupferbergs Großvater Walter, gelingt die Flucht nach Palästina. Viele andere Familienmitglieder werden ermordet.
Shelly Kupferberg hat deren Geschichte rekonstruiert. Sie hat Bruchstücke der Sammlung ihres Urgroßvaters wiedergefunden, etwa in der Bibliothek des „Stürmer“-Herausgebers Julius Streicher. Und sie kennt noch den Besteckkasten mit der Silbergarnitur, den Isidors Schwester Franziska bei ihrer Flucht nach Palästina mitgenommen hat.
Die Rehe auf dem Wiener Zentralfriedhof, erfährt sie, werden geschossen, weil sie sich im friedlichen Umfeld ohne natürliche Feinde zu stark vermehren. „Ich stelle mir die blutigen Tierkadaver vor – auf den in den Boden gelassenen Grabplatten, auf den notdürftigen Gräbern aus den Kriegsjahren, als in Wien noch einige wenige Juden lebten, zusammengepfercht in sogenannten Judenwohnungen, auf ihre Deportation wartend“, endet das Buch.

Shelly Kupferberg: „Isidor. Ein jüdisches Leben“, Diogenes, 256 Seiten, 24 Euro. Lesung mit Shelly Kupferberg am 1. März, 19 Uhr, im Kurt Tucholsky Literaturmuseum im Schloss Rheinsberg, Kartentel. 033931 39007